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DIE FURCHE 01.08.2024

DIE

DIE FURCHE · 31 10 Diskurs 1. August 2024 ERKLÄR MIR DEINE WELT Könnte es an unseren Eltern liegen? Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Den Briefwechsel gibt es jetzt auch zum Hören unter furche.at/podcast Energiegetränkt darf ich Ihnen gleich zu Beginn eine Entwarnung vorausschicken: Ich habe meine Zukunftsängste zumindest vorübergehend in eine Schublade gesteckt, versperrt und in den Keller gestellt. Mein Heimataufenthalt war ein voller Erfolg, und ich fühle mich zum ersten Mal in diesem Jahr von Grund auf gestärkt. Vor etwa 15 Jahren bin ich aus dem Haus meiner Eltern ausgezogen. Also mehr oder weniger, es gab Phasen, in denen ich ein halbes Jahr im Ausland verbrachte, und andere, in denen ich meine WG-Zimmer ausräumte und wieder mehrere Wochen in der Heimat wohnte. Irgendwie fühlt es sich deshalb nie so an, als ob ich wirklich ausgezogen bin. Das „Butter-Gate“ „ Habe ich das richtig verstanden? Das Drama bestand darin, dass ihr Kleinkind ein Stück Butter aß, trotz Verbots. “ Erst in der vergangenen Woche ist mir dieser Gedanke bewusst geworden. Es war an meinem Geburtstagsabend, den ich gemeinsam mit zwei engen Freunden in einer lauschigen Cocktailbar an einem Badesee verbrachte. Eine meiner Freundinnen hatte ihr Kleinkind dabei, es schlief im Buggy. Damit es ungestört träumen konnte, umwickelte sie den Kinderwagen mit leichten Tüchern. Wir wählten einen der unbesetzten Tische im hintersten Eck (im Freien). Buggy und Kind parkten neben uns zwischen zwei Meter hohen grasartigen Büschen. Über uns hing eine Lichterkette mit kleinen, roten, blauen, grünen und gelben Glühbirnen, und aus den Musikboxen neben der Bar erklangen Sommerhits der Nullerjahre. Als die Kellnerin unsere Piñas coladas und Mojitos servierte, erzählte mir die Freundin mit Kind gerade von ihrem Heimatbesuch. Beim familiären Grillen sei es zu einem „Butter-Gate“ gekommen, das sie noch Tage danach beschäftigte. Beim Erzählen wurde ihre Stimme immer leiser; um sie besser zu verstehen, rückte ich meinen Stuhl an sie heran. Pause. Ich runzelte meine Stirn. Habe ich die Geschichte gerade richtig verstanden? Das Drama bestand darin, dass ihr Kleinkind ein Stück Butter aß, trotz Verbots. Ein anderer Freund unterbrach die Stille: „Also, damit ich das richtig verstehe – du zerbrichst dir seit Tagen den Kopf, hinterfragst deinen Erziehungsstil, weil dein zweijähriges Kind ein Lebensmittel gegessen hat?“ Meine Freundin prustete los. „Ja, so gesehen hört sich das ein bisschen albern und übertrieben an“, stimmte sie ihm zu. Warum war es ihr als Erwachsene noch immer so wichtig, wie ihre Eltern über sie dachten? Nie wirklich erwachsen Diese Frage leitete ein langes Gespräch ein, in dem wir uns und unsere Generation reflektierten. Wir kamen zu dem Schluss, dass es uns viel schwerer fällt, uns von unseren Eltern und ihren Bewertungen abzugrenzen als der Generation vor uns. Vielleicht liegt es daran, dass keiner von uns dem traditionellen Lebensablauf „Hausbauen, Heiraten, Kinderkriegen“ folgt. Oder könnte es vielleicht auch an unseren Eltern und deren Generation liegen? Fällt es ihnen vielleicht schwerer als der Generation unserer Großeltern, ihre Kinder „gehen zu lassen“? Unser Freund meinte jedenfalls, dass wir im Großen und Ganzen sorglos und in Frieden aufgewachsen sind und vielleicht deshalb nie wirklich erwachsen werden und das vielleicht auch gar nicht wollen. Ich bin gespannt, was Sie zu unseren Überlegungen sagen. Von Martin Haidinger Vor 110 Jahren erklärte Österreich-Ungarn Serbien den In FURCHE Nr. 26 Krieg. Das Ultimatum an Serbien im Vorhof der Krise 3800 25. Juni 2014 galt vielen als Vorwand, um einen Krieg zu beginnen. Beim Attentat von Sarajevo wurden am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin von Gavrilo Princip, einem Mitglied der revolutionären Untergrundorganisation „Mlada Bosna“ (dt.: „Junges Bosnien“), ermordet. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Was ursprünglich als lokaler Krieg begann, weitete sich in kürzester Zeit zum Kontinentalkrieg aus. Der Historiker Martin Haidinger hat sich die Ereignisse kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs bereits 2014 für die FURCHE angesehen. Bleiben wir in der Chronologie der unannehmbaren Ereignisse des Jahres 1914: Für Österreich war die Ermordung seines Thronerben Franz Ferdinand eine unannehmbare Provokation. Dazu kam, dass Österreich von Beweisen für die Fernsteuerung der Attentate aus Belgrad sprach. Der Wiener Geschichtsschreiber Günther Steinbach („Der Schuss, der Millionen tötete“, in „Schicksalstage Europas“, Wien 2002) spricht von einem kurzfristigen „Bin Laden“-Effekt der Weltöffentlichkeit: „Österreich wurde zugebilligt, dass es etwas gegen diese Art von Terrorismus tun müsse und dass Serbien – das durch seine Agitation gegen die 48 Stunden bis zum Krieg österreichisch-ungarische Monarchie zumindest moralisch für das Attentat mitverantwortlich war – bestraft werden sollte.“ [...] Die Deutschen wollten Österreich nicht schon wieder – wie schon im Balkankrieg – von einem Eingreifen abhalten und es womöglich als Verbündeten verlieren. Und es gab dort auch Politiker, die ohnehin glaubten, Deutschland sollte besser jetzt als später einen Krieg für die ihm zustehende Weltmachtrolle führen. Damit, und man beachte das frühe Datum, war für die Österreicher die Entscheidung gefallen. Am 7. Juli beschloss der österreichische Ministerrat die Vorbereitung des Krieges gegen Serbien! Um die Form zu wahren, sollte dem ein diplo matisches Vorspiel vorhergehen: ein Ulti matum mit möglichst unannehmbaren Forderungen. [...] Besorgnisse kamen auf, und auf Foto: Bildnachweis internationalen Druck verlängerte Österreich die Frist. Jedenfalls übergab der serbische Ministerpräsident Pasic knapp vor Ablauf des Ultimatums am Nachmittag des 25. Juli Baron Gisl die Antwort. Im Prinzip sagte Serbien alles zu, was Österreich verlangt hatte, außer dem Einsatz offizieller österreichischer Vertreter in Serbien. [...] Am Dienstag, den 28. Juli, telegrafierte der österreichische Außenminister Graf Berchthold nach Belgrad die österreichische Kriegserklärung. Was Berchtold nicht wusste: Deutschlands oberster Politiker und Militär, Kaiser Wilhelm, hatte, eben aus dem Urlaub zurückgekehrt, wenige Stunden vor der österreichischen Kriegserklärung die serbische Antwort ausreichend gefunden und keinen Grund mehr für einen Krieg gesehen. Aber: Der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg gab das erst nach Wien weiter, als Österreich Serbien bereits den Krieg erklärt hatte. [...] „Niemals wurde ein Krieg für eine gerechtere Sache begonnen als der, für den sich nun Österreich erhebt“, beginnt der Leitartikel der vom nachmaligen FURCHE- Gründer Friedrich Funder als Chefredakteur geleiteten Reichspost am 28. Juni 1914. Es konnte also losgehen. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin Digital: Ana Wetherall-Grujić MA Redaktion: Philipp Axmann BA, MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) 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DIE FURCHE · 31 1. August 2024 Diskurs 11 Nicht nur Hardcore-Konservative zettelten nach der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris einen Kulturkampf an. Widerspruch gegen den Furor, der hier einmal mehr offenbar ist. Wenn Christentum zum Beleidigtsein wird Die Aufregung über die geköpfte Geburtsschmerzens-Madonna von Linz (vgl. FURCHE 28 und 29) war ein laues Sommerlüfterl gegen den fundamentalen Furor, der nicht nur in einschlägigen Kreisen und auf deren Plattformen den Performern der olympischen Eröffnungsfeier in Paris um die Ohren fliegt. Eine „Verhöhnung des Christentums“, „Verletzung religiöser Gefühle“ und „Blasphemie“ werden dabei in die Diskussion geworfen. Alles Versatzstücke, die zu einem sommerlichen Kulturkampf taugen. Und das „laizistische Frankreich“, das hier endlich in die Schranken zu weisen ist, muss nun allen aufgestauten Unmut über die christentumsfeindliche, woke, westliche LGBTQ+-Kultur über sich ergehen lassen. Zu denken gibt, dass nicht nur die üblichen Verdächtigen aus dem rechtskonservativen Christenlager auf die Barrikaden steigen. Ja, der an dieser Stelle zuletzt auch zitierte Kardinal Gerhard Müller wartete wieder auf kath.net mit einer Wortspende auf, wo er gegen „die völlig entmenschten Posen, mit denen bei der Inaugurationsfeier der Olympischen Spiele LGBT-Ideologen nicht nur das Letzte Abendmahl Jesu, sondern auch ihre eigene Menschenwürde verhöhnten“, wütete er. Die „französischen Autoritäten“, so Müller weiter, „merken nicht, dass sie die Ehre Frankreichs, das als Land und Kultur alles dem Christentum verdankt, in den Schmutz haben ziehen lassen und selbst noch in einem Anfall geistiger Umnachtung daran mitwirkten“. Bacchanal statt Abendmahl Aber auch der Passauer Bischof Stefan Oster reihte sich unter die Empörten ein: „Das queere Abendmahl war […] ein Tiefpunkt und in der Inszenierung völlig überflüssig.“ Und der als liberal geltende Kurienerzbischof Vincenzo Paglia tat es ihm gleich und sprach von „blasphemischer Verspottung eines der heiligsten Momente des Christentums“. Gewiss kann man aus christlicher Perspektive an den Olympischen Spielen einiges kritisieren: Die Gigantomanie (auch der Eröffnungsfeier!) macht aus dem Sportereignis auch diesmal ein kommerziell gesteuertes Megaevent. Und die Verbrämung des Ganzen unter dem Label „Völkerverständigung“ darf nicht nur rund um die Debatten über die (Nicht-)Teilnahme russischer Athletinnen und Athleten hinterfragt werden. Aber all das war den wahren Christinnen und Christen keinen Aufschrei wert. Einmal mehr entsteht dementgegen der Eindruck, dass das Christentum hier vornehmlich aus Beleidigtsein besteht. Nicht um Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit oder zuvorderst die frohe Botschaft, die diese Religion ihrer Lehre nach im Gepäck mitführt, geht die Auseinandersetzung, sondern um eine Szene in einer insgesamt sinnenfrohen Performance, die viele kulturelle Klischees frech hinterfragte. ZEIT- WEISE Von Otto Friedrich „ Zweifelsohne ist Leonardos Abendmahl ein ikonisches Bild. Aber es hat sich längst verselbstständigt. “ Die Beleidigten sind sich ihrer Sache so sicher, dass nicht einmal in Ruhe geklärt werden darf, ob die queere Performance überhaupt auf Leonardos Abendmahl rekurriert hat. Die vom Regisseur der Olympia-Eröffnung, Thomas Jolly, gelieferte Erklärung, sich auf das Bild „Fest der Götter“ des flämischen Malers Jan von Bijlert von 1635 bezogen zu haben, wurde von den christlichen Kulturkämpfern gleich als unglaubwürdige Schutzbehauptung abqualifiziert. Wieso eigentlich? Dank Internet ist es ja leicht nachzuprüfen, dass das Bild des bacchanalischen Göttermahls viel mehr Entsprechungen in der Performance hatte als Leo nardos bildnerische Interpretation des letzten Mahles Christi. Aber wer die Fahne des Kulturkampfes hochhält, den kümmert es wenig, ob er einer Schimäre nachjagt oder ob es tatsächlich Grund geben könnte, sich über eine „Entweihung“ eines religiösen Gemäldes zu alterieren. Zweifelsohne handelt es sich bei Leonardos Abendmahl um eine ikonische Darstellung, die weltweit bekannt ist. Aber das Bild hat sich ob seiner massenhaften Verbreitung längst verselbstständigt – es ist christentumsweit millionenfach verkitscht kopiert worden (das regt die Eiferer von heute aber keineswegs auf). Und es ist ebenso verballhornt, künstlerisch paraphrasiert oder satirisch verfremdet worden: Salvador Dalí etwa „bediente“ sich des Leonardo-Bildes ebenso wie die TV-Serie „Die Simpsons“. Auch da offenbart ein kurzer Blick ins Web Beispiele sonder Zahl. Gelassenheit statt Schaum vor dem Mund Der Entrüstungssturm offenbart aber nicht bloß das Beleidigtsein als christliche Untugend, sondern zeigt einmal mehr, wie humorlos religiös-fundamentalistische Kritik daherkommt. Wenn es schon nicht möglich ist, der queeren Performance von Paris etwas abzugewinnen, so wünscht man sich viel mehr Gelassenheit statt Schaum vor dem Mund. Außerdem sollten die Grenzen zwischen säkularer, auch laizistischer Kultur und Religion offen und durchlässig sein. Es ist kein Zufall, dass eine Religion, die sich einbunkert, es in aktuellen Gesellschaften schwer hat. Vielleicht hilft auch die Erinnerung, wie sehr säkulare und religiöse Kultur einander seit jeher durchdringen. Das Liebeslied aus der Renaissance „Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart“ wurde mit dem Text „O Haupt voll Blut und Wunden“ zu einem der zentralen Lieder über die Passion Christi. Auch von daher wäre es vernünftiger, Spuren des Religiösen auch in einer Olympia- Feier positiv zu suchen, als einmal mehr die alte Leier der Blasphemie auszupacken. Der Autor war bis April 2024 stv. Chefredakteur der FURCHE. ZUGESPITZT Der Leib Crystal Ein Waldviertler Priester hat sich des Versuchs geständig gezeigt, die Droge Crystal Meth herzustellen. Nun wird er seines Amtes enthoben. So könnte eine Sonntagsmethe in Gmünd ausgesehen haben, die dem Wort „Transzendenz“ wohl eine neue Bedeutung verlieh: Dicke Schwaden qualmen aus dem Weihrauchfass. Die Ministranten haben gerade erst nachgelegt. Nach neun Stunden ekstatischer Predigt geht es in den Endspurt. Der Methdiener bereitet die Kommunion vor, die Menschen drängen sich vor dem Altar. Die Glocken dröhnen ihnen im Kopf, dabei sind sie extra auf Zimmerlautstärke eingestellt. „Der Leib Crystal“, verkündet der Priester und legt dem Gewinner des Gemenges etwas zögerlich ein kleines kristallines Etwas in die Hand. Die Rezeptur ist nämlich neu, und die Gmündner Gemeinde zeigt sich eher konservativ, was Veränderungen betrifft. Neues ist nicht gern gesehen, man bleibt seinen Gewohnheiten treu, so unorthodox diese auch sein mögen. Dafür lässt man sich nicht verurteilen. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Kristall. Außerdem muss man ja irgendwie die Jugend zur Kirche bringen. Und die goldene Regel des Waldviertels wird nach wie vor eingehalten: Es wird alles regional und nach haltig produziert. Isabel Frahndl PORTRÄTIERT Staatspreis für eine polnische Chronistin Wałbrzych ist weder groß noch klein, mit knapp 100.000 Einwohnern erfüllt es gerade das Kriterium einer Großstadt. Lange Zeit wurde hier Steinkohle abgebaut, heute ist es eine Industriestadt. Den deutschen Namen Waldenburg trägt die niederschlesische Stadt schon lange nicht mehr. Mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam auch die deutsche Sprache hier an ihr Ende. Diese kleine Großstadt an der polnischen Peripherie ist das Zentrum der vier ins Deutsche übersetzten Romane von Joanna Bator. Anhand ihrer Heimatstadt erzählt die 1968 geborene Autorin nicht nur polnische respektive schlesische, sondern mitteleuropäische Geschichte, die sich hier, eingeklemmt im Winkel zwischen Deutschland und Tschechien, spannungsvoll verdichtet zeigt. Es ist eine Geschichte der Gewalt, die sich in die Landschaften, die Häuser und die Körper der Menschen eingeschrieben hat, ganz besonders der Frauen, aus deren Perspektive Bator meistens erzählt. Geschlechterfragen interessieren die promovierte Philosophin auch wissenschaftlich. Nach ihrem Studium forschte und lehrte sie unter anderem in England, New York und Japan. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Warschau und konzentriert sich ganz auf ihre literarische Karriere. Ihr großes Thema sind transgenerationale Traumata. Die Grauen des 20. Jahrhunderts spuken durch ihre unheimlichen Roman welten. Die Geister der Vertriebenen, Beraubten und Ermordeten haben die Gebäude nie verlassen. Bator verwendet ihre Silhouetten, um die großen politischen Zusammenhänge an die Wand zu projizieren. Genregrenzen sind da, um überschritten zu werden. Spielerisch wechselt sie zwischen Horror und Bildungsroman, Familiengeschichte und Krimi. Wie nah ihr Schreiben an ihrer eigenen Biografie ist, zeigt sich an der Protagonistin des großartigen Romans „Dunkel, fast Nacht“, Alicia Tabor, ein Anagramm ihres eigenen Namens. Neben ihren Romanen schreibt Bator Essays und journalistische Texte. Ihr Werk ist vielfach preisgekrönt, unter anderem wurde sie mit dem Hermann-Hesse-Preis und dem Eichendorff-Literaturpreis ausgezeichnet. Jetzt wurde ihr im Rahmen der Salzburger Festspiele der Österreichische Staatspreis für Literatur verliehen. Es ist eine fast symbolische Entscheidung in diesem politisch so schicksalshaften Jahr und eine, die literarisches Engagement und ästhetischen Mut belohnt. (Veronika Schuchter) Foto: APA / Suhrkamp Verlag / Magda Hueckel Die Autorin und Essayistin Joanna Bator wurde in Salzburg mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.

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