DIE FURCHE · 22 2 Das Thema der Woche Russisch in Zeiten des Krieges 1. Juni 2023 AUS DER REDAKTION Wird der 3. Juni zum Schicksalstag für Österreichs Sozialdemokratie? Eher nicht, wenn man FURCHE-Gastkommentator Anton Pelinka glauben darf, der die Vorsitzendenkür der SPÖ schon für vergurkt hält, oder bildungsbürgerlicher ausgedrückt: für die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Oder zwischen Pest und Cholera. In Wirklichkeit sind diese Turbulenzen Peanuts. Deshalb widmet sich der dieswöchige FURCHE-Fokus von Brigitte Schwens- Harrant und Brigitte Quint aus Anlass des Tags der russischen Sprache (6. Juni) den Verwerfungen, denen sich das durch den Ukrainekrieg in Mitleidenschaft gezogene Russische gegenübersieht, das ja wesentliche Beiträge zur Weltliteratur hervorgebracht hat. Dass gleichzeitig in der Ukraine die Wirtschaftsfähigkeit nicht nur durch Russlands Krieg, sondern auch durch westliche Investoren bedroht scheint, beleuchtet Jan Opielka. Victoria Schwendenwein widmet sich veränderten Anforderungen fürs Berufsleben und Otto Friedrich hat Adolf Holls Franz-von-Assisi-Biografie „Der letzte Christ“ wiedergelesen. Ralph Janik äußert sich dann zur Entminungsdebatte und Martin Tauss hat mit dem Biodiversitätsforscher Franz Essl gesprochen. Das dieswöchige Feuilleton macht Lust aufs Lyrik-Festival W:ORTE und erinnert an die von den NS-Verfolgungen lebenslang gezeichnete Schriftstellerin Gertrude Rakovsky. Schließlich berichtet Matthias Greuling aus Cannes, wo Österreich leer ausging, aber wesentliche Filme prämiert wurden. (ofri) Von Ernst Trummer Am 6. Juni begeht Russland und das, was von der „Russischen Welt“ übriggeblieben ist, den „Tag der russischen Sprache“. Den Feiertag gibt es noch nicht lange – 2011 hat ihn der damalige Putin-Platzhalter im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, per Dekret in den amtlichen Kalender aufgenommen. „Was die Österreicher von den Deutschen trennt, ist ihre gemeinsame Sprache“, so ein launiges Bonmot. Das galt lange in abgewandelter Form auch für das Verhältnis zwischen Russen und Ukrainern. Mittlerweile wird die Sprache der einen von den anderen mitnichten als das Verbindende empfunden. Dennoch: In vergangenen Zeiten war die russische Sprache noch die Lingua franca aller Sowjetbürger, während den einzelnen Nationalsprachen im riesigen Vielvölkerstaat oft nur die Domäne der Folklore vorbehalten blieb. Interethnische Kommunikation Das zeigte sich auch in den Biografien der betroffenen Menschen, vor allem im Osten und Süden der Ukraine, wo es traditionell große russische Sprachinseln gab. Der ukrainische Schriftsteller Volodymyr Rafeyenko beschrieb in einem Essay für das „Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen“ die Wandlung des Stellenwerts von Sprache im ukrainisch-russischen Kulturraum am Beispiel seiner persönlichen Erfahrungen. So sei es für seine Eltern völlig normal gewesen, als Ukrainer russisch zu sprechen. Die von den Sowjets geförderte Russifizierung hatte dazu geführt, dass sozialer Aufstieg an die Kenntnis der russischen Sprache geknüpft war. Die Sprache Puschkins und Tolstois galt als die Ausdrucksweise der Eliten und der Metropoliten. Dennoch war den Menschen im Donbass das Ukrainische nie fremd, so Rafeyenko, Jahrgang 1969. „Meinen ersten Hochschulabschluss habe ich in Russischer Philologie gemacht. Ich habe das Studium im russischsprachigen Donezk absolviert, wo niemand jemals jemandem verboten hat, Russisch zu sprechen oder zu schreiben.“ Als Rafeyenko Anfang der 90er-Jahre zu schreiben begann, tat er das auf Russisch, seine Texte wurden in russischen Verlagen publiziert, seine ersten Literaturpreise wurden ihm in Moskau verliehen. „Mir wurde nie zum Vorwurf gemacht, dass ich kein Ukrainisch spreche. Als Lesen Sie hierzu das Interview mit Oksana Havryliv über die Gewalt der Sprache, von Wolfgang Machreich (21.9.2022), auf furche.at. Russisch sprechen, Ukrainisch denken – so lautet das Credo vieler Ukrainer(innen). Über das Dilemma, wenn die Muttersprache plötzlich die Sprache des Feindes wird. Verhört und losgesagt „ Der soziale Aufstieg war an die Kenntnis der russischen Sprache geknüpft. Die Sprache von Puschkin und Tolstoi galt als die Ausdruckweise der Eliten und Metropoliten. “ Sprache der interethnischen Kommunikation war das Russische in Donezk die allgemein verbreitete Sprache.“ Das änderte sich mit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991, mit der natürlich auch forcierte Emanzipationsbestrebungen in Sprache und Kultur einhergingen. Sie waren als Ausdruck der nationalen Selbstermächtigung zu verstehen, nicht als Ausschluss der russischen Sprache aus dem öffentlichen Leben. Spätestens nach der Krim-Annexion und der Ausrufung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk durch pro-russische paramilitärische Verbände im Frühjahr 2014 begann aber die Akzeptanz des Russischen zu bröckeln. Und mit der Invasion 2022 ist das einstmals friedliche und gleichberechtigte Miteinander der Kulturen endgültig einem disruptiven Bildersturm gewichen, der in der Demontage russischer Denkmäler auf den Plätzen ukrainischer Städte seinen plakativsten Ausdruck fand. Umfragen belegen diesen Sinneswandel in der ukrainischen Bevölkerung: Das Kiewer Institut „Rating Group“ hat im vergangenen August eine Telefonumfrage unter 1000 repräsentativ ausgewählten erwachsenen Ukrainern in den nicht von den Russen besetzten Gebieten durchgeführt und dabei erhoben, dass bereits eine knappe Mehrheit von 51 Prozent auch zu Hause nur noch Ukrainisch spricht. 13 Prozent sprechen daheim Russisch, rund ein Drittel verwendet beide Sprachen. Mehr als die Hälfte der Bewohner im Süden und Osten der Ukraine sind zweisprachig, etwa ein Viertel ausschließlich russischsprachig. Interessant dabei: Rund jeder dritte Russischsprachige bezeichnet Ukrainisch als seine Muttersprache. Außerhalb des privaten Bereichs waren die Gewichtungen schon seit der Unabhängigkeitserklärung klar zugunsten der offiziellen Landessprache verteilt, seither hat die Zustimmung nur noch weiter zugenommen: 86 Prozent waren zuletzt der Ansicht, dass Ukrainisch die alleinige Amtssprache sein soll, für Russisch als zweite Amtssprache konnten sich nur noch drei Prozent erwärmen. Die Befragung zeigte übrigens auch eine überwiegend positive (51 Prozent) bzw. neutrale (31 Prozent) Haltung der Ukrainer gegenüber ihren russischsprachigen Mitbürgern. Bemerkenswerterweise hat der Krieg diese Tendenz sogar noch verstärkt, denn im April 2021 hatten nur 37 Prozent eine positive Einstellung zu den Russischsprachigen im Land. Zusammen mit dem über die Zeit zunehmend negativen Bild, das die Ukrainer von den Menschen in den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk haben, ergibt sich der Eindruck, dass die Sprache gar nicht so eine zentrale Bedeutung für die Menschen hat. Was offensichtlich viel mehr zählt, ist die Einstellung zur ukrainischen Nation und ihrem Staatswesen. Bis zum Krieg war Volodymyr Rafeyenko ein erfolgreicher russischsprachiger ukrainischer Schriftsteller. Für seinen Roman „Kurzes Buch der Abschiede“ erhielt er 2016 den Volodymyr-Korolenko-Preis für die beste ukrainische Prosa in russischer Sprache. Mit der immer prekärer werdenden Lage im russisch dominierten Donbass hat sich Rafeyenko schließlich bewusst der Herausforderung gestellt, so gut Ukrainisch zu erlernen, um darin auch schriftstellerisch tätig sein zu können. Mit „Mondegreen: Lieder vom Tod und der Liebe” legte er 2019 sein ukrainisches Erstlingswerk vor. Ein „Mondegreen“ ist das, was man landläufig einen „Verhörer“ nennt. Besonders anfällig dafür sind wir als Kinder, wenn wir fremdsprachige Texte hören. Der amerikanischen Autorin Sylvia Wright wurde die Ehre zuteil, diesem Phänomen einen klingenden Namen zu geben, nachdem sie in einer alten schottischen Ballade die Worte „And Lady Mondegreen“ anstelle von „And laid him on the green“ verstanden hatte. Transformation und Identität Entwurzelung und Neuanfang, Transformation und Identität bilden das thematische Schwerefeld des Romans. Leitmotivisch vollzieht sich die Annäherung an diese Themen durch den beschwerlichen Aneignungsprozess von Sprache durch die Hauptfigur, einen Kriegsflüchtling aus dem Osten, der wieder Herr über sein Leben werden muss. Dem Autor Rafeyenko sind solche Erfahrungen selbst nicht fremd. 2019 meinte er noch, er wolle in Zukunft gerne weitere Werke auf Ukrainisch verfassen, nach dem russischen Überfall hat er sich nach eigenem Bekunden vollständig von der russischen Sprache losgesagt. Der Autor ist Übersetzer, freischaffender Journalist und Blogger.
DIE FURCHE · 22 1. Juni 2023 Das Thema der Woche Russisch in Zeiten des Krieges 3 Das Gespräch führte Erich Klein Maria Stepanova, Jahrgang 1972, ist mittlerweile nicht nur in Moskau ein Star. Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Lyrikerin wurde mit „Nach dem Gedächtnis“ 2021 für die Shortlist des Internationalen Booker Prize nominiert. Seit ihrem mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzten erzählerischen Großessay über ihre russischen und jüdischen Vorfahren erschienen auf Deutsch drei Gedichtbände: „Der Körper kehrt wieder“ (2020), „Mädchen ohne Kleider“ (2022) und „Winterpoem 20/21“ (2023). Kürzlich erhielt die derzeit am Wissenschaftskolleg Berlin arbeitende Autorin den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In ihrer auf Englisch gehaltenen Festrede stellte Maria Stepanova die für eine Schriftstellerin besonders schmerzhafte Frage: „Was aber tun, wenn die eigene Sprache zum Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei wird?“ DIE FURCHE: Was bedeutet es für Sie, heute – in Zeiten des Krieges – eine russische Dichterin zu sein? Maria Stepanova: Für mich wurde das Wort „russisch“ erstmals in meinem Leben entscheidend. Ich habe das nicht selbst entschieden, es ist eine Folge der katastrophalen Umstände. Ein Teil meiner Vorfahren sind Russen, ein Teil Juden. Worüber ich früher immer nachdachte, war das Verhältnis zu meiner jüdischen Herkunft. Als ich sieben war, wurde mir erklärt, was Judentum bedeutet. Ich muss nicht erklären, dass das in den 1970er und 1980er Jahren in Russland – gelinde gesagt – eine schmerzhafte Geschichte war. Mein russischer Teil war immer ganz unproblematisch. Jetzt hat sich alles umgekehrt. Was heute schmerzt, ist mein Russisch-Sein. Ich muss alles neu bewerten. Eine „russische Dichterin“ zu sein, bedeutet jetzt für viele Jahre – wenn nicht für immer – den Verlust des persönlichen Lebens. DIE FURCHE: Inwiefern Verlust des persönlichen Lebens? Stepanova: Ich war immer stolz darauf, dass ich mit meinem Schreiben nur mich selbst repräsentierte. Ich nahm kaum an großen Ausstellungen und Buchmessen teil, in denen sich die russische Kultur groß präsentierte. Mir war immer wichtig, für mich und unabhängig zu sein. Seit der ungeheuerlichen Invasion in die Ukraine ist klar: Jeder, der ein Buch von mir zur Hand nimmt, sieht mich in erster Linie als russische Schriftstellerin, alles andere kommt danach. DIE FURCHE: Von ukrainischer Seite ist jetzt – vor allem in den sozialen Netzwerken – oft die Aufforderung zu lesen, die Russen sollen nach den Massakern in Butscha und Irpin endlich schweigen … Stepanova: Ich verstehe die Position der ukrainischen Kollegen sehr gut, die an keinen Diskussionen mit russischen Schriftstellern teilnehmen oder gemeinsam mit einem Autor aus Russland einen Preis entgegennehmen wollen. Das wird sich bis zum Sieg der Ukraine in diesem Krieg kaum ändern. Erst danach kann vielleicht wieder ein Dialog beginnen. Ich bin bereit dafür, vorausgesetzt, der Kollege aus der Ukraine ist damit einverstanden, mit mir zu reden. Das ist ein wichtiger Punkt in Bezug auf den öffentlichen Raum. Im privaten Bereich, in dem es um die Beziehung von Mensch zu Mensch geht, bin ich froh, dass die Beziehungen mit ukrainischen Freunden weiterbestehen. Wir sprechen miteinander und unterstützen uns in dieser verzweifelten Situation gegenseitig. Foto: IMAGO / Emmanuele Contini DIE FURCHE: Ein Vorwurf in der auch innerrussischen Diskussion lautet, russische Kultur und Literatur zeichneten sich durch imperiales Gehabe aus, weshalb sie zu „canceln“ seien. Stepanova: Ich glaube daran nicht wirklich – im Russischen gibt es nicht einmal ein passendes Wort dafür: „Cultural Blaming“. Wir sprechen hier in Berlin miteinander – kein Goethe, kein Schiller hat Deutschland und die deutsche Kultur davor bewahrt, was mit ihr unter den Nazis passierte. Ja, es stimmt – sehr viel von dem, was die Menschen im 18. Jahrhundert dachten und schrieben, passt nicht mehr zu unseren heutigen Ansichten. Voltaire wurde mit Sklavenhandel reich, bei russischen Dichtern des 19. Jahrhunderts gibt es massenhaft Antisemitismus, ganz zu schweigen vom imperialen Getue, das sie offen demonstrierten. Genau dasselbe war in anderen imperialen Kulturen und Literaturen der Fall. Die russische Kultur ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Allerdings macht das die gegenwärtige Situation nicht weniger schrecklich. Außerdem findet sich ein latenter Vorrat an Gewalt und Aggression in jeder Sprache – auf der Ebene der Sprache selbst und in der Kultur überhaupt. Das Schreckliche ist, dass all das heute wieder an die Oberfläche tritt und sich mit rasanter Geschwindigkeit ausbreitet. DIE FURCHE: Können Sie das näher erläutern? Stepanova: Ein einfaches Beispiel – nicht aus der Literatur, sondern aus dem Journalismus. Schon nach 2014 habe ich mich oft gefragt, was mit der Sprache in der offiziellen russischen Presse los ist. Bemerkenswert waren weniger die Inhalte, die immer dieselben sind, sondern die Stilistik. Es war ein Mischmasch aus dem flapsigen Stil der glamourösen 2000er Jahre, abstrusen Neologismen und Texten wie aus den 1930er oder 1950er Jahren. Die Prawda unterschied sich damals nicht vom Stürmer. Ein Moskauer Web-Portal erfand vor einigen Jahren einen Test, bei dem gegenwärtige und Texte von damals nebeneinandergestellt wurden. Ich stellte mit Entsetzen fest, dass es gar nicht leicht war, immer zu erkennen, aus welcher Zeit die Artikel stammten. Diese Sachen werden von jungen Menschen geschrieben, die ganz sicher nicht Tage in der Bibliothek verbrachten, um sich den Stil alter Zeitungen anzueignen. Was bedeutet das aber? Diese Art zu sprechen und zu schreiben hat immer weiter existiert, sie wurde nur in den Hintergrund geschoben! Plötzlich ist sie wie eine Schlange, die eine Zeitlang zusammengerollt im Verborgenen lebte, hervorgeschnellt. Ich befürchte, fast jeder kann solche Ungeheuerlichkeiten schreiben. Vermutlich ist das auch kein rein russisches Phänomen, bei uns gibt es nur eine stärkere Neigung dazu, weil die Sowjetvergangenheit nicht wirklich gestorben ist. Heute sieht man ja, wie die Rhetorik des Zweiten Weltkriegs, der offenbar nie beendet wurde, wiederbelebt wird. Erstmals in ihrem Leben wurde das Wort „russisch“ entscheidend, erzählt die Dichterin Maria Stepanova. Sie sieht die Rhetorik des Zweiten Weltkriegs wiederbelebt. „Geschichte wurde bei uns nie zu Geschichte“ Maria Stepanova 1972 in Moskau geboren, gehört sie zu den international erfolgreichsten russischen Dichterinnen der Gegenwart. Im April erhielt sie den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Zur Zeit lebt sie in Berlin. „ Seit der ungeheuerlichen Invasion in die Ukraine ist klar: Jeder, der ein Buch von mir zur Hand nimmt, sieht mich in erster Linie als russische Schriftstellerin ... “ Erich Klein: „Was tun wir, wenn wir uns erinnern? Maria Stepanovas ‚Nach dem Gedächtnis‘“, 10.1.2019, furche.at. DIE FURCHE: Die Erinnerung daran wurde aus nachvollziehbaren Gründen sehr intensiv gepflegt … Stepanova: Ich bin kürzlich auf die Bemerkung gestoßen, Russland sei ein Land, das von Gespenstern bewohnt werde. In Russland laufen mehr Geister als lebende Menschen herum. In gewisser Weise stimmt das auch: Wir sind mit unserer eigenen Geschichte absolut unversöhnt. Die Leute können nächtelang voller Ernst über die „Weißen“ und die „Roten“ streiten, welche Partei im Bürgerkrieg Recht hatte. Allerdings handelt es sich dabei nicht um historische Dispute über die Vergangenheit, es geht dabei um Dinge, die bis heute Schmerz bereiten. Wer für die „Weißen“ argumentiert, wird nie zugeben, dass auch die „Roten“ beträchtliche Unterstützung hatten. Das zeugt von der Unfähigkeit, Geschichte als etwas Vergangenes, Vollendetes anzusehen, das man verstehen oder analysieren kann. Geschichte wurde bei uns nie zu Geschichte, Geschichte ist vielmehr eine entzündete Wunde des kollektiven Gedächtnisses. DIE FURCHE: Und das spielt auch in Propaganda und Krieg gegen die Ukraine eine Rolle? Stepanova: Was der russische Staat und Putin gemacht haben, stellt für viele Jahre, wenn nicht für immer jegliches Narrativ über die Traumata Russlands und die russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs in Frage. Ja, natürlich hat es unglaubliche Opfer gegeben, aber jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu sprechen. Mir fällt dazu ein: Als in der Kindheit alle am Hof Krieg spielten, wollten alle für die „Unsrigen“ sein. Doch jetzt stellt sich heraus – die „Unsrigen“ sind die Mächte des Bösen. Die „Unsrigen“ wurden plötzlich zu „Denen“, zu den „Anderen“. Und plötzlich ist nicht mehr klar, wer hier das Böse ist. DIE FURCHE: Und wie sieht es mit der Zukunft Russlands aus? Stepanova: Was Russland betrifft, so habe ich kein optimistisches Szenarium. Ich habe absolut keine Vorstellung davon, was in einem Jahr sein wird. In diesem Jahr weiß ich noch, wie wir leben werden, danach ist alles unklar. Der Autor lebt als Publizist und Übersetzer in Wien. Winterpoem 20/21 Von Maria Stepanova Zweisprachige Ausgabe Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja Suhrkamp 2023 119 S., geb., € 22,70
Laden...
Laden...
Ihr Zugang zu neuen Perspektiven und
mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte.
© 2023 DIE FURCHE