DIE FURCHE · 22 16 Film 1. Juni 2023 KURZKRITIKEN Die Dunkelheit als Prinzip der Bedrohung Ursprünglich hätte Rob Savages „The Boogeyman“ nur per Streaming veröffentlicht werden sollen, aber nun ist dem Horrorfilm auch ein regulärer Kinostart vergönnt. Basierend auf der berühmten Stephen-King-Kurzgeschichte erzählt „The Boogeyman“ vom Psychiater Will Harper (Chris Messina), dessen Töchter (Sophie Thatcher, Vivien Lyra Blair) den Tod der Mutter nicht überwinden können und nachts von einer dunklen Gestalt heimgesucht werden. „The Boogeyman“ ist dort am besten, wo es nicht um Kreaturen im Dunkeln geht, sondern die Dunkelheit selbst zum abstrakten Prinzip der Bedrohung erklärt wird. Durch die gekonnte Nutzbarmachung der Dualität von Licht und Schatten zieht der Film mit Vorläufern wie „Lights Out“ (2016) oder dem bis heute völlig unterschätzten spanischen „Darkness“ (2002) gleich, verliert aber an Spannung, wenn das Monster gegen Ende immer konkreter wird. Unterm Strich bleibt solides Genrehandwerk mit Newcomerin Sophie Thatcher in einer tollen Performance. (Philip Waldner) Foto: APA / AFP / Patricia De Melo Moreira Cannes 2023: Justine Triets Gerichtssaalfilm „Anatomy of a Fall“ errang an der Croisette die Goldene Palme, der Große Preis der Jury ging ans Auschwitz-Drama „The Zone of Interest“. Von hoher Qualität The Boogeyman USA 2023. Regie: Rob Savage. Mit Sophie Thatcher, Chris Messina, Lyra Blair. Disney. 98 Min. Schweizer Version eines Kammerspiels Die Theatervorlage ist dem Kammerspiel „Die Nachbarn von oben“ anzumerken. Fast völlig auf eine Wohnung und vier Akteure beschränkt, wird darin die marode Beziehung von Anna und Thomas gehörig auf die Probe gestellt, als das Paar vom oberen Stockwerk auf einen kleinen Umtrunk vorbei kommt. Gerade stritten sich die Gastgeber noch, ob sie den Jungverliebten sagen sollen, dass von ihrem laut hörbaren Sex die Bilder von den Wänden fallen. Nun müssen sie damit fertig werden, dass die beiden das Thema selbst ansprechen – und ein Angebot zu unterbreiten haben. Stoffe wie dieser sind prädestiniert für eine filmische Mehrfachverwertung – siehe „Der Vorname“. Nachdem der Katalane Cesc Gay sein Bühnenstück selbst auf die Leinwand brachte und es auch eine italienische Version gab, sind nun die Schweizer dran. Deren Adaptierung weiß nicht nur schauspielerisch zu unterhalten, sondern abseits der ernsten Szenen auch mit einem authentischen, launigen Hin und Her der Dialoge. (Thomas Taborsky) Die Nachbarn von oben CH 2023. Regie: Sabine Boss. Mit Ursina Lardi, Roeland Wiesnekker. Lunafilm 88 Min. Von Matthias Greuling • Cannes Als man vergangenen Samstag die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller auf den Stufen vor dem Palais des Festivals in Cannes erspähte, wie sie sich aufmachte, der Preisverleihung beizuwohnen, da war man sich sicher: Hüller würde in Kürze mit dem Darstellerpreis belohnt werden. Die Frage war nur: für welchen Film? Denn Hüller spielte gleich in zwei Wettbewerbsbeiträgen die Hauptrolle, einmal in Justine Triets „Anatomy of a Fall“, einmal in Jonathan Glazers „The Zone of Interest“. Im ersten Film ist sie eine erfolgreiche Schriftstellerin, die man vor Gericht stellt, weil sie im Verdacht steht, ihren Mann ermordet zu haben. Im zweiten spielt sie Hedi Höß, die Frau von Rudolf Höß, der das Vernichtungslager in Auschwitz leitete. Beides phantastisch gespielte Rollen, beide preiswürdig. Gekommen ist es dann doch anders: Nicht Hüller, sondern die Filme erhielten hohe Auszeichnungen beim 76. Filmfestival von Cannes. Triets Gerichtsdrama, in Form und Inhalt packend inszeniert, holte die Goldene Palme des Festivals und damit den Hauptpreis. Die Jury unter dem Vorsitz des zweifachen Palmengewinners Ruben Östlund zeichnete damit die erst dritte Frau aus, die in der langen Geschichte des Festivals die „ In Frankreich wird es beim Nachwuchs dünn, das führte das Festival vor Augen: Die meisten Filme stammten von etablierten Filmemachern. “ ANIMATIONS-FILM Der Charme der Comics Mit rund tausend Mitwirkenden hat „Across the Spider-Verse“ die größte Crew aller Zeiten für einen Animationsfilm. Wer der Meinung ist, dass Superhelden-Verfilmungen in jüngster Zeit einfallslos und steril geworden sind, hat mit dem Animationsfilm „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ Gelegenheit, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Die Fortsetzung des Überraschungshits „Into the Spiderverse“ (2018) funktioniert weitgehend unabhängig vom Marvel Cinematic Universe, da Sony nach wie vor die Rechte an Marvels populärstem Superhelden besitzt und sich das Studio abseits der vertraglichen Zwänge mit Disney (die für die Realverfilmungen notwendig sind) für dieses Projekt bewusst auf die Suche nach neuen kreativen Möglichkeiten begeben hat. „Across the Spider-Verse“ ist mit knapp zweieinhalb Stunden und rund tausend Mitwirkenden – der größten Crew aller Zeiten für einen Animationsfilm! – äußerst ambitioniert geraten, was man dem Film in Palme gewann. Davor gelang das nur Julia Ducournau („Titane“) und Jane Campion („Das Piano“). Triet nutzte die ganze Aufmerksamkeit gleich für eine flammende Rede gegen den neoliberalen Kurs der Regierung Macron, der auch die Kulturbranche erfasst hätte. Man könne sich in diesem Klima nicht mehr ausprobieren, nicht mehr aus Fehlern lernen, weil man keine zweite Chance erhalte, formulierte es Triet. Sie hat damit nicht unrecht: In Frankreich wird es gerade beim filmenden Nachwuchs dünn, das hat auch das diesjährige Festival vor Augen geführt: Die meisten Filme im Wettbewerb stammten von etablierten Filmemachern, neue Stimmen waren kaum zu vernehmen, sondern Bewährtes unter anderem von Ken Loach, Todd Haynes, Catherine Corsini, Catherine Breillat oder Nanni Moretti. Dafür war der Bewerb insgesamt von hoher Qualität. Jonathan Glazer ging auch nicht leer aus: „The Zone of Interest“ bekam jeder Sekunde ansieht. Humorvoll, temporeich und mit viel Liebe zum Detail gehen hier unterschiedliche Zeichenstile ineinander über, wobei gekonnt die Panelstruktur der Comics nachgeahmt wird. „Across the Spider-Verse“ besinnt sich so auf den Charme der bunten Heftvorlagen und dürfte der Lektüreerfahrung von allen Verfilmungen bisher am Nächsten kommen. Die Story rund um mehrere Paralleluniversen mit jeweils eigenen Spinnenhelden ist nicht der Rede wert, bietet dem schwarzen Teenager Miles Morales (im Original gesprochen von Shameik Moore) aber Gelegenheit, einem Kinopublikum, das mit Peter Parker als Spider-Man aufgewachsen ist, auch weiterhin ans Herz zu wachsen. (Philip Waldner) Spider-Man: Across the Spider-Verse USA 2023. Regie: Joaquim Dos Santos, Kemp Powers, Justin K. Thomson. Sony. 140 Min.
DIE FURCHE · 22 1. Juni 2023 Film 17 Die Sieger 2023 Justine Triet (2. v. li.) mit der Goldenen Palme für „Anatomy of a Fall“ (mit Darsteller(inne)n Antoine Reinartz, Sandra Hüller und Milo Machado Graner). den Großen Preis der Jury. In dem Drama erzählt Glazer aus dem Lebensalltag der Familie Höß, die sich neben dem Lager in Auschwitz eine paradiesische Villa gebaut hatte mit großem Garten, vielen Blumen, Pool. Das Idyll trügt: Nebenan findet der größte Massenmord der Menschheitsgeschichte statt, nachts wummern die Krematorien unter der Last der zu verbrennenden Leichenberge, es riecht streng, die Asche verwendet Frau Höß im Garten gar zum Düngen ihrer Pflanzen. Ein schwer erträglicher Film. Jessica Hausner ging leer aus – zu Recht Einer, der ebenfalls zum Stammpersonal in Cannes gehört, ist Wim Wenders. Der war gleich mit zwei Filmen vertreten: Sein wunderbare 3D-Dokumentarfilm „Anselm“ beschreibt die Arbeit des Künstlers Anselm Kiefer, sein Wettbewerbsbeitrag „Perfect Days“ über einen Kloputzer in Tokios öffentlichen Toiletten brachte dem Hauptdarsteller Kōji Yakusho den Darstellerpreis – höchst verdient! Bei den Frauen siegte eben nicht Sandra Hüller, sondern die türkische Schauspielerin Merve Dizdar. Sie verkörpert in „About Dry Grasses“ von Nuri Bilge Ceylan eine Lehrerin. Eine überraschende Auszeichnung, ebenso wie der Preis für die beste Regie: Der ging nämlich an Tràn Anh Hùng, einen in Vietnam geborenen und in Frankreich lebenden Filmemacher. Er stellte in Cannes „The Pot-Au-Feu“, ein kulinarisches Drama mit Juliette Binoche und Benoît Magimel in den Hauptrollen, vor. Der Film zelebriert in opulenten Bildern die Haute Cuisine Frankreichs und macht entsprechend Appetit. Die lukullischen Genüsse auf der Leinwand hätten aber durchaus Konkurrenz gehabt in dieser Kategorie. Auch der Jury-Preis für Aki Kaurismäkis neuen Film „Fallen Leaves“ ist ein wenig übertrieben: Schließlich fügt die Erzählung einer Liebesgeschichte zwischen einer Kassiererin und einem Alkoholiker dem Werk des lakonischen Finnen kaum Neues hinzu. Nicht alle Entscheidungen in Cannes sind also nachvollziehbar. Jedoch schon, dass Österreichs Beitrag „Club Zero“ von Jessica Hausner, ein stilistisch allzu starres Werk über die Dynamik von Wahrheit, Propaganda und Mitläufertum, ohne Preis blieb. Bianca Geissingers Dokumentarfilm „27 Storeys – Alterlaa Forever“ porträtiert weit mehr als eine Wohnanlage. Geschichten vom Glück Von Isabella Marboe Alterlaa ist wie ein Dorf, keinesfalls ein „soziales Getto“. Das wird auch im Film „27 Storeys – Alterlaa Forever“ deutlich. Das Glück trug Architekt Harry Glück schon im Namen, es war auch der Anspruch, den er an seine Architektur stellte. Sie sollte „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl an Menschen“ schaffen. Am stärksten vermittelte diese Utopie der Wohnpark Alterlaa. Drei Baublöcke, 27 Stockwerke, 250.000 Quadratmeter, rund 10.000 Menschen. Laut einer Studie sind 98 Prozent von ihnen glücklich, nirgends ist die Wohnzufriedenheit höher. Und das, obwohl Alterlaa ein großvolumiger Massenwohnbau der 1970er und 1980er Jahre ist. Ein denkbar unpopulärer Bautyp. Doch Alterlaa ist „wie ein Dorf“, kein soziales Getto. Hier gibt es Pools am Dach, ein kleines Hallenbad, Tennisplätze, hier wohnte man Tür an Tür mit Stars. Regisseurin Bianca Gleissinger ist dort in einer westseitigen Maisonettewohnung im Block C auf Stiege drei im ersten Stock auf Tür Nummer fünf aufgewachsen, bis zu ihrem siebten Lebensjahr dachte sie, Alterlaa sei Wien. Sie muss glücklich gewesen sein, weil sie bei ihrem Auszug „weinend die Dunstabzugshaube umarmte“. Nun macht sie sich mit der Kamera am Ort ihrer Kindheit auf die Spurensuche nach dem Glück und dringt dabei mit wachem, aufmerksamem Blick behutsam immer tiefer in die Anlage und die individuellen Lebensgeschichten ihrer Bewohnerschaft ein. Vom riesigen Park, durch das Vordach zum Portier, an langen Gängen mit abgehängten Decken in unterschiedliche Wohnungen mit riesigen Terrassen, mit jeder Türe öffnet sich ein eigener Mikrokosmos. Als besonders ergiebig erweist sich dabei gleichermaßen der dunkle Maschinenraum im Inneren der großen Baukörper, wo die vielen Clubräume liegen. Die Modellbauwerkstatt mit ihren unzähligen Flugzeugen, das liebevoll bestückte und gepflegte Freddy-Quinn Archiv. Gegen Ende kommt der Film seinen Protagonist(inn)en auf sehr respektvolle Weise immer näher. Es geht um Risse im Traum vom Glück. Die Scheidung der Eltern, die zum Auszug der Regisseurin aus Alterlaa führte, oder die Scheidung, die eine über 50-jährige Grazerin nach Alterlaa brachte. Und damit zum Gemeinschaftsgarten, den Stefan, ein etwas jüngerer Bewohner, nun initiiert hat. Ebenso wie den vegetarischen Kochclub. Das Leben geht weiter. Ein wunderbarer Film. 27 Storeys – Alterlaa Forever A/D 2023. Regie: Bianca Gleissinger. Polyfilm. 82 Min. ARTHOUSE-FILM Langatmigkeit als Prinzip der Kunst Trenque Lauquen ist eine eher trostlose Kleinstadt westlich von Buenos Aires. „Trenque Lauquen“ hat die argentinische Filmemacherin Laura Citarella ihre monumentale Filmerzählung betitelt die – weil fast viereinhalb Stunden lang – in zwei Teilen ins Kino kommt. Citarella gehört dem Filmkollektiv „El Pampero Cine“, das bereits durch ausufernde, aber cineastisch große Filme bekannt geworden ist. „Trenque Lauquen“ ist eine Filmerzählung über eine verschwundene Frau deren Leben und Bleiben sich in langen ruhigen Einstellungen ebenso langsam entschlüsselt wie sie durch überraschende und die Handlungsklarheit durchbrechende Rückblenden gekennzeichnet ist. Laura (Laura Paredes), Botanikerin, erforschte die Flora von Trenque Lauquen. Freund Rafael (Rafael Spregelburd) und Kollege Ezequiel, genannt „Chico“ (Ezequiel Pierri), suchen sie. Aber es bleibt nicht bei einem Suspense-Krimi um eine verschwundene Person. Sondern Citarella verwebt eine mysteriöse Liebesgeschichte, die sich vor Jahren ereignet hat, ebenso in diesen Plot wie indigene Erscheinungen in der Stadt. Der Film entwirrt diese Stränge in großer Langsamkeit. Keine leichte Kost, die vorgebliche Langatmigkeit auszuhalten. Aber wer sich dem aussetzt, erlebt Filmkunst auf höchster Stufe. (Otto Friedrich) Trenque Lauquen ARG/D 2022. Regie: Laura Citarella. Mit Laura Paredes, Ezequiel Pierri, Rafael Spregelburd, Elisa Carricajo, Juliana Muras , Verónica Llinás. Filmgarten. Teil 1: 129 Min., Teil 2: 133 Min. Laura (Laura Paredes) verschwindet in Trenque Lanquen: Viel mehr als Mystery ... KREUZ UND QUER FEIERN WIE DIE GÖTTER – SO FEIERT ÖSTERREICH DI 6. JUNI 22:35 Vom Bau von Laubhütten, über das Fasten bis hin zum Licht: höchst unterschiedlich sind die Symbole und Geschichten religiöser Feste. Wie genau Gläubige feiern und was hinter den unterschiedlichsten Traditionen steckt, erkundet der Kabarettist Rudi Roubinek gemeinsam mit einem Rabbiner, einem Pfarrer und einem Imam. religion.ORF.at Furche23_KW22.indd 1 23.05.23 12:43
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