21 · 25. Mai 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Wilhelm Scheruebl: Eimer, Marmorsplitter, gelbe Ölfarbe (seit 1987). Installation in der Ausstellung „GEHEN & VERGEHEN“ im Grazer KULTUM (www.kultum.at). ja – eine Sprachgrenze, die politisch nicht überschritten werden dürfte. Leider sind die roten Linien längst obsolet geworden. Nein, Frau Landeshauptfrau in St. Pölten, nein, Herr Landeshauptmann in Salzburg, kein „Wählerwille“ hat Sie gezwungen, sich mit den Kickl-Parteigänger(inne)n ins Bett zu legen! Dass die Von Otto Friedrich bürgerlich-konservativ-christdemokratische Partei da keine Grenzüberschreitung uch religiös unmusikalische erkennbar, wohin diese Reise führen soll. scheut, ist extrem kurzsichtig. Denn wer Zeitgenoss(inn)en darf man Erschütternd, dass das alles en passant geschieht und vom Gros der Demokratinnen bügelhalter für Europas Totengräber? waren in der Zwischenkriegszeit die Steig- dieser Tage mit der kulturgeschichtlichen Botschaft von und Demokraten im Land keine roten Linien ausgemacht werden. wie Ex-EU-Kommissar Franz Fischler ih- Dass in der ÖVP gerade noch Altvordere Pfingsten behelligen. Denn die Erzählung dieses Festes kreist um das re Stimme wider den demokratischen Super-GAU, der da dräut, erheben, zeigt, wo „Wunder“ des Verstehens: Obwohl Menschen Herbert Kickls Extremismus aus aller Welt in Jerusalem versammelt waren, verstanden sie die Botschaft der Apos- und ihr Kollege Martin Reisigl haben die- gelandet ist. Wobei auch die ehemalige an- Die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak diese einst staatstragende Partei bereits tel: „Jeder hörte sie in seiner Sprache reden.“ ser Tage im Standard einmal mehr auf den dere Reichshälfte nicht hoffen lässt: Die Pfingsten ist für Christinnen und Christen ein Sprachfest – und ein Gegenbild zur Kickl aufmerksam gemacht (zum wieviel- ab, dass Parteifreunde größere Feinde sprachlichen Extremismus von Herbert SPÖ liefert gerade ihr Lehrstück da rüber gleichfalls biblischen Erzählung des Turmbaus zu Babel im Buch Genesis: Dort ver- dessen Unverfrorenheit schon lang auf dem politischen Spektrums (vgl. „Zugespitzt“, ten Mal eigentlich?) und darauf, dass all sind als die Gegner am rechten Rand des wirrte sich die Sprache der Menschen, weil Tisch liegt. Dass der nunmehrige FPÖ-Obere schon vor Jahren Flüchtlinge in Lagern sind das keine rosigen Aussichten. Dass Seite 15). Für die Demokratie hierzulande sie sich anmaßten, über allem zu stehen. Religiöse Traditionen transportieren „konzentrieren“ wollte, hat man ebenso hingenommen wie die Rede vom „Volkskanz- von Viktor Orbán hofieren lässt, komplet- sich Herbert Kickl mittlerweile auch schon auch Menschheitswissen, das mag an diesen beiden Beispielen deutlich werden. ler“, der Kickl sein will. Dieser Ausdruck tiert diesen Befund. Und auch nur ein flüchtiger Blick auf aktuelle politische Entwicklungen legt nahe, Herbert Kickl kokettiert mit der Sprache 2023 scheint daher prekär. Sie könnte auch wurde einst für Adolf Hitler verwendet … Die politische Pfingstbotschaft anno dass Sprache unübersehbar ein Thema ist. des Nationalsozialismus. Wer das anno so lauten: An ihren Worten sind sie zu erkennen. In Bezug auf Herbert Kickl und Denn dass die autoritäre Versuchung auch 2023 tut, ist politisch nicht satisfaktionshierzulande an Boden gewinnt, lässt sich fähig. Jedenfalls für aufrechte Demokrat(inn)en nicht. Und wer das als bloße Staat Österreich ganz gewiss eine gefähr- seine Parteigenoss(inn)en ist dies für den auch und gerade an der Sprache, die verwendet wird, ausmachen. NS-Rhetorik abtut, verschließt die Augen liche Drohung. Man sage nicht, dass die Gefahren von vor der Entwicklung, die stracks in Zeiten führt, die niemals wiederkommen soll- otto.friedrich@furche.at rechts nicht wahrnehmbar waren. Im Gegenteil: Seit Jahr und Tag ist an der Sprache ten. Es muss rote Linien geben und auch – @ofri_ofriedrich Susanne Glass erinnert sich im „Klartext“ an eine Schule in Jerusalem, die jüdische, muslimische und christliche Kinder lehrt, einander in Respekt zu begegnen. Seite 8 Glauben macht nicht automatisch glücklich oder gesund. Doch Spiritualität kann helfen, heilsam mit Krankheit und Misserfolg umzugehen, meint Martin Dürnberger. Seite 10 Diese Woche streiten die FURCHE-Redakteurinnen Brigitte Quint und Manuela Tomic über moralisch korrektes Reisen. Seite 14 Er schrieb immer wieder über den Ort, „an dem sich die verschiedenen Gesichter der Welt in einem Punkt sammeln wie zer streute Lichtstrahlen in einem Prisma“. Zum Tod von Dževad Karahasan. Seite 19 Im Venedig-Siegerfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ dokumentiert Laura Poitras den Kampf der Fotokünstlerin Nan Goldin gegen die Pharmafamilie Sackler. Seiten 20–21 Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0 DIE FURCHE · 21 25. Mai 2023 ine Aussage von Außenminister Alexander Schallenberg bleibt mir wohl auch für afghanische Geflüchtete: Die meisten fahren zu schleppen, sondern den Frauen und te Rate an positiven Asylbescheiden. Das gilt ein elend langes, aufwendiges, teures Asylver- ewig in Erinnerung: Im August 2021 afghanischen Frauen und Männer, die bei uns Mädchen aus Afghanistan ähnlich wie bereits hatte er erklärt, er werde die Taliban um internationalen Schutz ansuchen, erhalten diesen auch. Asylstatus aufgrund ihrer geschlechtsspezifi- in Schweden und Dänemark automatisch den an ihren Taten messen – was zynisch anmutete: Genau jene, die rund 20 Jahre zuvor Aber – und es wäre zu schön, um wahr zu schen Verfolgung zuzuerkennen? für ein System standen, in dem die Menschenrechte, speziell die Rechte der Frauen, missachhin ist lang, steinig und extrem ineffizient. Wasicherheit und Ressourceneffizienz schaffen, sein, gäbe es dieses Aber nicht: Der Weg dort- Damit würde man nicht nur Rechtstet wurden, sollten nun „Taten sprechen lassen“, rum ist das so? Anders formuliert: Wie könnten die unzähligen Stolpersteine aus dem Weg immanenten Fehlentscheidungen der Asyl- sondern könnte auch den zum Teil system- die dem Werte- und Rechtssystem der internationalen Gemeinschaft entsprächen? geräumt werden – für alle Beteiligten, also sowohl für Asylwerber als auch für Behörden, gerade bei den Asylbehörden erster Instanz behörden begegnen. Denn derzeit dominiert Schnell war klar, dass aus dem Zynismus für die Menschen in Afghanistan Realität wurde. und last but definitely not least im Sinne der ein Grundsatz des Misstrauens und der Ablehnung. Statt objektiv die Fluchtgründe zu un- Seit bald zwei Jahren geht dieses Land unaufhörlich in die falsche Richtung, entfernt sich tersuchen, wird eher versucht, sie zu wider- Menschenrechte? immer mehr von den Werten und Rechten, die legen und den Asylantrag abzulehnen. Ob davor in jahrzehntelangen Bemühungen engagierter Menschen errungen wurden. Mittler- der Behörden oder vielleicht auch an dem in das an mangelnden Ressourcen, Überlastung weile sind Frauen in Afghanistan praktisch Österreich etablierten System liegt, dass ein vollständig vom öffentlichen Leben ausgeschlossen; sie dürfen nicht mehr allein auf die den Beamt(inn)en mehr Punkte in ihrem negativer Asylbescheid für die ausführen- Straße gehen, großteils keinen Beruf ausüben Von Annemarie Controlling system bringt, sei dahingestellt. und keine weiterführenden Schulen und Universitäten besuchen. Sie „sterben einen lang- Ressourcen des Staates effizient nutzen Schlack samen Tod“, wie es eine Afghanin vor Ort im Wie gesagt: Die Zahlen zeigen, dass in den Gespräch mit Amnesty International einmal vergangenen Jahren nahezu alle Afghaninnen und Afghanen hierzulande einen Schutz- ausgedrückt hat. Und die Welt schaut zu – oder besser gesagt: Sie schaut weg. Auch Österreich. status erhalten haben – weil sie um ihr Leben fürchteten und fliehen mussten. Würde ihnen Pluspunkte für Beamte bei Negativbescheid dieses Recht automatisch zuerkannt, so entspräche das nicht nur den völkerrechtlichen Vor einiger Zeit haben wir, also das Team von Amnesty International, dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner und Aukannt hat, sondern führte überdies zu deutlich Verpflichtungen, zu denen sich Österreich beßenminister Schallenberg die dramatische Lage in Afghanistan erneut im Detail geschildert, also schneller und auch menschenwürdiger zu mehr Effizienz in der Verwaltung. Man käme ihnen die „Taten“, an denen Schallenberg die dem gleichen Ergebnis wie bereits jetzt. Taliban messen wollte, präsentiert und an die Mein Zugang dazu ist naheliegend: Österreichs Entscheidungsträger(inn)en sollten als Verantwortlichen (nicht nur) in Österreich: Daher lautet mein Appell an die politisch Aussagen vom August 2021 erinnert. Abseits von „Wir beobachten die Lage“ sowie komplizierten und juristisch verschnörkelten Erkläverletzungen, die von den Taliban ausgehen, stritten und eine völkerrechtliche Verpflich- Reaktion auf die unzähligen Menschenrechts- Die Achtung der Menschenrechte ist unberungen war in dem Antwortschreiben jedoch genau diese Menschenrechte ins Zentrum ihres politischen Handelns stellen. In Afghadelns zu stellen, dient aber durchaus auch den tung. Sie in den Mittelpunkt politischen Han- vor allem zu lesen, dass Österreich ohnehin schon so viele Asylwerber und Asylwerberinnen aus Afghanistan aufgenommen habe. in dauerhafter Gefahr um Leib und Leben. Sonen Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden. nistan sind vor allem Frauen und Mädchen Eigeninteressen des Staates, damit die eige- Ja, das stimmt. Tatsächlich, so geht es aus bald sie davor fliehen, haben sie im Sinn der der Statistik des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR hervor, hatte Österreich in den Asyl in dem Land, in dem sie darum ansuchen. der Non-Profit-Organisation „Amnesty Genfer Flüchtlingskonvention Anspruch auf Die Autorin ist die Geschäftsführerin Jahren 2017 bis 2021, gemessen an der Einwohnerzahl des Landes, weltweit die höchstisch Schutz zu gewähren? Sie nicht nur durch für Menschenrechte im globalen Kontext Was spricht also dagegen, ihnen automa- International“ in Österreich und setzt sich ein. vollen demokratischen Aufbrüchen und verheerenden diktatorischen Abstürzen. „Ich habe ihnen gesagt, ihr könnt mich hier 15 oder 20 Jahre einsperren, und ich werde immer noch der Meinung sein, dass Nicaragua eine Demokratie braucht“, zitiert Leonhard Dora rer, Leserinnen und Leser war es jedoch ein Glücksfall, dass sich Leonhard entschieden hat, ein sehr guter María Téllez im FURCHE-Artikel. Das Zitat steht auch Journalist zu werden. 1955 in Wien geboren, bezog er für Leonhards journalistischen Leitgedanken, den er den Staatsvertragsjubel „Österreich ist frei“ auf seine Berufslaufbahn und bog nach Jus-Studium und Rechtsstaatlichkeit ausformuliert hat. Dass er in den in unzähligen Beiträgen über und für Demokratie und Diplomatischer Akademie von einer fixen Außenamtskarriere in Richtung freier Außenpolitikjournalist ab. garn legte, fügt sich angesichts der autoritären Verwer- letzten Jahren einen Fokus seiner Arbeit auch auf Un- Im Jänner 1983 erschien Leonhards erster FURCHE- fungen dort nahtlos in Leonhards Lebensthema ein. Artikel über „Machtspiele in El Salvador“. Vor wenigen Anfang dieser Woche wäre er zu einer Recherchereise nach Kolumbien und Peru aufgebrochen. Dazu Wochen schrieb er in dieser Zeitung ein Porträt über die nach 605 Tagen Isolationshaft freigelassene Demokratiekämpferin Dora María Téllez in Nicaragua. Diete Ralf Leonhard in der niederösterreichischen Trai- kam es nicht mehr. Am Sonntag in der Früh verunfallser über 40 Jahre dauernde Artikelbogen steht beispielhaft für Leonhards journalistisches Schaffen, in dürfte er beim Versuch, den Hund seiner Mutter aus sen. Soweit sich der Hergang rekonstruieren lässt, geografischer wie in inhaltlicher Hinsicht. dem Fluss zu bergen, mit dem Kopf gegen einen Felsen Er war einer der profundesten Lateinamerikakenner gestoßen und ertrunken sein. Österreichs, lebte 14 Jahre als Korrespondent in Nicaragua, liebte diese Region, ihre Kultur, ihre Menschen, stimmigen Titel „Von Nicaragua bis Wien“ findet am Die Gedenkfeier für Ralf Leonhard unter dem litt an der politischen Achterbahnfahrt von Nicaragua und seinen Nachbarstaaten zwischen hoffnungsamerika-Instituts in Wien statt. (Wolfgang 12. Juni um 17 Uhr im Frida-Kahlo-Saal des Latein- Machreich) Schauen Sie, wir haben uns alle ein Prozedere auferlegt, das mit sehr vielen Mühen erarbeitet war, das dann im Vorstand beschlossen wurde, das daraufhin gelautet hat, dass wir eine Mitgliederbefragung machen, keine Frage, dass am 3. Juni ein Parteitag stattfindet und dass das Ergebnis der Mitgliederbefragung auch bindend ist. Irgendwann ist es vorbei mit den Spasseteln, wir sind ja nicht auf einer Kindergartenveranstaltung, irgendwann muss man das ernst nehmen, was man beschlossen hat. Es ist eine ungute Situation derzeit, keine Frage, aber ich habe da sicherlich kein Kalkül dahinter. Es geht auch nicht darum, sich zu vergleichen, es geht einfach darum, sein Programm auf den Tisch zu legen. Ich habe mich mit dem inhaltlichen Programm von Andreas Babler sicher nicht bis ins Detail auseinandergesetzt, das mache ich auch mit anderen Dingen nicht. Er hat aber gut mobilisiert, keine Frage. Es wäre ja verrückt, wenn man nicht aufeinander zugeht. Es gibt aber nicht die Verpflichtung, einander anzurufen. Vielleicht wäre es auch interessant gewesen, wenn er mich angerufen hätte, immerhin habe ich die Wahl gewonnen und nicht er. SPÖ-Zukunftshoffnung Hans Peter Doskozil im jüngsten ZIB2-Interview Doris Helmberger Ralf Leonhard (1955–2023), Journalist und Lateinamerika- Experte, verunfallte bei einem Spaziergang mit Hund in der Traisen. DIE FURCHE · 22 12 Diskurs 1. Juni 2023 IHRE MEINUNG Schreiben Sie uns unter leserbriefe@furche.at Genuss und Erleichterung Die Sprachgrenze Von Otto Friedrich Nr. 21, Seite 1 In Zeiten wie diesen ist es Genuss, Erleichterung und Freude, einen Artikel wie diesen zu Pfingsten zu lesen! Ganz herzlichen Dank für die deutlichen Worte! Ute Greiter via Mail „Überkickeln“ wie oben sowie Gedenken. Und handeln Von Doris Helmberger Nr. 19, Seite 1 sowie Neuer Kurs oder neue Partei? Von Trautl Brandstaller Nr. 18, Seite 7 Es ist bitter zu sehen, wie nach 70 Jahren schwarz-rotem Nachkriegs-Frieden/Waffenstillstand ein türkisschwarzes-blaubraunes Lager wiederaufersteht. 1918 begab sich nach dem desaströsen Scheitern der Gottesgnaden-Habsburgermonarchie mit ihrer Untertanen-Gesellschaftskonstruktion die konservativ-bürgerlich-bäuerliche Mehrheit der Österreicher in Gefolgschaft der „christlichsozial“-etikettierten Großpartei, die bald als autoritärer „politischer Katholizismus“ die Vormacht erkämpfte, um mit Waffengewalt die „roten Gfrieser“ zu eliminieren. Die daraufhin verwaisten roten Wähler versuchte Führer Dollfuß durch „Überhitlern“ der NSDAP wegzunehmen: In der evozierten Eigendynamik rechtsextremer Mobilisierung ging diese Rechnung bekanntlich Zwischen Kleeblatt und Realpolitik Ich verstehe Antisemiten nicht Der König der Romantik Henry Kissinger erlebte und prägte das Weltgeschehen, seine Rolle ist bis heute umstritten. die jüngste Studie zu Antisemitismus in Österreich – Literaturgeschichte ein: zum 250. Geburtstag Maram Stern vom Jüdischen Weltkongress über Er ging als Dichter und Übersetzer in die Am 27. Mai wird er 100 Jahre alt. · Seite 7 und was dagegen zu tun ist. · Seite 9 von Ludwig Tieck. · Seite 17 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Niemand soll sagen, man habe nicht gewusst, wohin die politische Reise in Österreich geht. Für staatspolitisch Agierende scheint es keine roten Linien mehr zu geben. Das ist gefährlich. Die Sprachgrenze A Herabkunft des Geistes: Was Christinnen und Christen in diesen Tagen feiern, gilt als Gründungsfest der Kirche. Doch die Institution findet sich in schwieriger Zeit. „ Die politische Pfingstbotschaft anno 2023 könnte lauten: An ihren Worten sind sie zu erkennen. “ Pfingsten – steiniger Weg Foto: KULTUM / Johannes Rauchenberger Im Kampf gegen die Kilos In der Adipositas-Therapie gibt es neue Optionen. Doch die „Diätspritze“ sollte keine falschen Hoffnungen wecken. · Seiten 22–23 SPÖ: Eine Wahl und kein Wille Die Mitgliederbefragung hat die Sozialdemokratie „zerdrittelt“. Pamela Rendi-Wagner ist mittlerweile zurückgetreten, doch wer ihr nachfolgt, bleibt offen. Laurenz Ennser-Jedenastik über politische Spiele ohne Regeln – und die Mär vom „Wählerwillen“. Seite 5 AUS DEM INHALT Israel: Hand in Hand Smarte Nichte Spiritualität Darf man in den Urlaub fliegen? Sarajevo erinnern und erzählen Oxycodon als Mäzenmittel furche.at nicht auf. Besorgniserregend ist die Entschiedenheit der posttürkisen ÖVP, aus der Geschichte nicht zu lernen: Dass die ÖVP nun gegen die „roten Gfrieser“ einen Machterhalt mittels „Überkickeln“ anstrebt, anstelle auch nur daran zu denken, mit der (wie Trautl Brandstaller kürzlich in der FURCHE kompetent analysierte) angeschlagenen „linken“ Mitte einen rechts-mittigen Kompromiss auszuloten, ist ein Hinweis, dass die „christlichsoziale“ Nachfolgepartei auf die seit 1848 österreich-bewährte Droge konservativer Konfliktverleugnung nicht verzichten kann: Die ÖVP-Granden flüchten sich lieber in berauschende reaktionäre Lagerkämpfe à la Zwischenkriegszeit, als sich das eigene türkise Desaster einzugestehen und davon ernüchtert zum Dialog bereit zu sein. Dr. Franz Huber 1040 Wien Wirklich „Kleruskirche“? Sturm und Feuer für die Kirche Von Ferdinand Kaineder Nr. 21, Seite 2 Ferdinand Kaineder schreibt: „Wenn Menschen landläufig von Kirche reden, dann meinen sie im öffentlichen Diskursraum die Hierarchiekirche der Bischöfe, die Kleruskirche, die Missbrauchskirche, die frauenfeindliche Amtskirche, das menschenferne Oben (mit Papst Franziskus als bemühte Ausnahme) und das gestrige, nicht demokratisch verfasste Kirchengebilde …“. Ich könnte mich jetzt auf Kaineders Seite schlagen und mich als Franziskus-Verehrer zur „bemühten Ausnahme“ zählen – mit lautem Bedauern über diese unsympathisch-katholische Amts-Kirche! Aber gerade „landläufig“ erlebe ich Kirche eben nicht in dem medialen (Feind-)Bild von außen – und betone dabei das Wort „erleben“ im Gegensatz zum „über die Kirche Reden“, was ja fast immer zur Karikatur verkommt. Zur „Hierarchiekirche“ findet Kaineder: „Der skurrile Pfarrer, der immer das letzte Wort hat; der Sprache nicht mehr mächtig; das Bild einer weltoffenen und menschenzugewandten Kirche mehr verdeckt als darstellt …“ Ach, möchte ich entgegnen, wie viele großartige ältere und alte Priester werden doch in vielen Gemeinden mitsamt ihren Eigenheiten geliebt und geachtet! Warum? Weil man sie kennt als gütige und fromme Priester, die vielleicht tiefer den Menschen zugewandt sind als das öffentlich sichtbar sein kann. Und wenn es auch zu den „Perlen“ gehört, von denen man nicht eigens Aufhebens machen soll: Was für eine großartige „Sache“ ist doch dieses uralte und freie (nicht sektenartige!) Zusammenkommen von Frauen und Männern und Familien jeden Sonntag! Ähnlich zu den Verabschiedungen (jedenfalls auf dem Land) und die Großfamilie zur Taufe der Kinder (ungebremst)! Allerdings: Was eine „Gemeinde“ von der „Kirche vor Ort“ entfremden kann, ist, wenn sie spüren müsste, dass der Priester die Liebe zur Eucharistie verloren hätte und diese nur noch „automatisch“ absolvieren könnte; wenn er also in dem ursprünglichen Sinn kaum noch „Geistlicher“ wäre und „Seelsorger“. Was nun Kaineders Rede von der „frauenfeindlichen Kirche“ angeht: Das eine ist die abstrakt-politische Rede von „den“ Frauen; das andere sind jene Frauen, die ich als Pfarrer kenne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es darunter Personen gäbe, die die Messe nur mit stillem Groll in Kauf nehmen, weil sie sich ausgeschlossen sehen, ihrerseits „oben“ am Altar zu stehen. Pfr. Peter Mathei Alberschwende E NACHRUF Demokratie-Journalist von Nicaragua bis Wien alf Leonhard wäre auch ein guter Diplomat geworden; für österreichische, deutsche und RSchweizer Medien, darunter Radio Ö1, taz, Südwind-Magazin und FURCHE, ihre Hörerinnen, Hö- Foto: Elisabeth Mandl DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Diskurs Mädchen und Frauen aus Afghanistan sollten hierzulande ohne Hürden Schutz erhalten, fordert Annemarie Schlack von Amnesty Österreich. Ein Appell im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Und die Welt schaut zu – besser gesagt: weg „ Derzeit dominiert bei den Asylbehörden erster Instanz ein Grundsatz des Misstrauens und der Ablehnung. “ Foto: imago / Rolf Zöllner ZUGESPITZT Sicher kein Kalkül dahinter Wegen Macht, nicht Liebe wie oben Um beim synodalen Weg eine Kehrtwendung herbeizuführen, müssen Papst und Bischöfe erst den Mut aufbringen, zu ihrem Mann-sein zu stehen. Wenn es aber Männer gibt, gibt es auch Frauen! Diese Wahrheit setzt voraus, dass die Schöpfungsordnung Gottes wieder akzeptiert wird, die im Jahr 1139 durch die Einführung des Pflichtzölibats aufgehoben wurde. Jetzt aber sitzen sich die Hochwürdigen Herren in den Bischofskonferenzen gegenüber und geben sich als unfehlbare Funktionäre des Glaubens aus. Jeder aber weiß vom anderen, dass er ein Verhältnis mit einer Frau hat, die aber im Alltag in der Versenkung zu verschwinden hat. Diese Frauen führen der Liebe wegen ein qualvolles Schattendasein. Schuld an diesem Verhalten der Kleriker sind die unmenschlichen Rahmenbedingungen der katholischen Kirche. Die Pflicht zum Zölibat ist aus Macht und Habgier 15 entstanden und hat nichts mit Gott, der die Liebe ist, zu tun. Ilse Sixt D-85667 Oberpframmern Alle zur Matura? Die fehlende Kontrollinstanz Von Martin Deutsch Nr. 21, Seite 12 In den 1980er Jahren hat man aus gesellschaftspolitischen Gründen den Leuten eingeredet, alle Kinder müssen in eine AHS gehen, ohne Rücksicht auf deren Talente und Neigungen. Als dann bei der Matura zu viele durchfielen, hat man einfach das Niveau gesenkt. Die Folgen sind nicht nur die nunmehrigen Studieneingangsphasen, sondern auch der jetzige Facharbeitermangel. Dabei wusste man an den Unis sehr bald, von welcher AHS studientaugliche Maturanten kamen – und hat sie entsprechend gefördert. Man kann also dem Kollegen Deutsch nur beipflichten, auch was den Maturavorsitz betrifft. Friedrich Rihs via Mail Berührender Nachruf Demokratie-Journalist von Nicaragua bis Wien Von Wolfgang Machreich Nr. 21, Seite 15 Wolfgang Machreich hat über den Journalisten und Lateinamerikaexperten Ralf Leonhard einen berührenden und lesenswerten Nachruf geschrieben. Herzlichen Dank dafür. Ich habe den Verstorbenen im Rahmen meiner Tätigkeit beim Land Steiermark (Referent für Entwicklungszusammenarbeit) kennen und schätzen gelernt. Dr. Wolfgang Himmler 8010 Graz Den Krieg verweigert Ankündigung Fokusse Nr. 21, Seite 23 Unter dem Titel „Das Erwartet Sie in den nächsten Wochen“ kündigen Sie für die Nr. 31 einen Fokus zu „Franz Jägerstätter“ an und bezeichnen ihn darin als „Wehrdienstverweigerer aus St. Radegund“. Doch Jägerstätter war kein Wehrdienstverweigerer, sondern ein Kriegsdienstverweigerer! Das ist ein wesentlicher Unterschied! Es wäre angebracht, dass DIE FURCHE die richtige Bezeichnung anführt. Franz Julius Scharf 4020 Linz Neues Mega Brieflos in vier Farben und mit 500.000 Euro als Hauptgewinn Der „Panda“ erweitert den „Mega Brieflos Zoo“ Wer kennt ihn nicht, den animalischen Scherz: „Welches Tier hat vom Farbfernsehen nicht profitiert? – Der Pandabär.“ Das tat und tut seiner Liebenswürdigkeit jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Der schwarz-weiße, putzige Geselle aus China hat es sogar zum Wappentier des World Wide Fund For Nature (WWF) geschafft und steht da als Symbol für den Schutz unserer Erde. Aktueller denn je, und so widmen sich auch die Österreihischen Lotterien diesem Thema und bringen das neue Mega Brieflos „Panda“ auf den Markt. Der Pandabär ziert die Vorderseite des neuen Mega Briefloses, bei dem der Hauptgewinn – wie auch bei allen bisherigen Mega Brieflosen – wiederum 500.000 Euro beträgt. Daneben gibt es zahlreiche weitere Gewinne von 3 bis 1.000 Euro, und das alles bei einem Lospreis von 3 Euro. Die Losserie besteht aus 2,5 Millionen Losen, und es gibt vier unterschiedliche Farbvarianten: grün, pink, gelb und blau. Zudem bietet auch das „Panda“-Los mit dem „Bonusrad“ eine zweite Gewinnstufe, bei der man in jeder Annahmestelle die Chance auf einen Sofortgewinn von bis zu 100 Euro hat. Was mit „Frosch“, „Leopard“, „Zebra“ „Panther“ und „Tiger“ begonnen hat, findet nun seine Fortsetzung: Das „tierische“ Mega Brieflos wird um das Sujet „Panda“ erweitert. Das Mega Brieflos „Panda“ mit 500.000 Euro Hauptgewinn gibt es in allen Annahmestellen. Foto: Österreichische Lotterien IN KÜRZE RELIGION ■ Kyrill straft Kunstexperten RELIGION ■ Kirchenkampf in Nicaragua RELIGION • GESELLSCHAFT ■ Protest gegen Bhakdi-Urteil WISSEN ■ Bewegung und Schmerz Im Streit um die berühmte Dreifaltigkeitsikone des Malers Andrei Rubljow hat der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. den Vorsitzenden seines Expertenrats für Kirchenkunst, Erzpriester Leonid Kalinin, mit harten Sanktionen belegt. Der Patriarch berief den 54-Jährigen von seinem Posten ab und untersagte ihm, Gottesdienste zu zelebrieren. Begründet wurde der Schritt damit, dass er die Überführung der Ikone aus der staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskaus größter Kirche, der Christus-Erlöser-Kathedrale, abgelehnt habe. Gemeinsam mit Fachleuten der Galerie soll Kalinin vor einer Beschädigung des Kunstwerks gewarnt haben. Nicaraguas Regierung hat die katholische Kirche der Geldwäsche beschuldigt und deren Konten eingefroren. Die Bankkonten stünden in Verbindung mit religiösen Persönlichkeiten, die wegen Hochverrats und anderer Verbrechen verurteilt worden seien. Die Regierung von Präsident Daniel Ortega hat seit 2018 Priester und Nonnen inhaftiert und ausgewiesen, Wallfahrten und religiöse Prozessionen verboten und geleitete Pflegeheime und Suppenküchen geschlossen. Im vergangenen Februar verurteilte ein nicaraguanisches Gericht den prominenten Regierungskritiker Bischof Rolando Alvarez zu 26 Jahren Gefängnis. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat den Freispruch für den Mediziner und Corona-Kritiker Sucharit Bhakdi vom Vorwurf der Volksverhetzung kritisiert. Der Präsident des Zentralrats, Josef Schuster, nannte das Urteil empörend. „Das Gericht legitimiert hier reinen Antisemitismus.“ Mit der Auslegung des Begriffes „Volk der Juden“ als vermeintliche Kritik an der israelischen Regierung folge das Gericht dem Narrativ, das jeden Juden überall für die Aktivitäten des Staates Israel verantwortlich mache. Diese Haltung von einem deutschen Gericht als Argumentationsgrundlage zu hören, „ist nichts weniger als skandalös“, beklagte Schuster. Menschen mit regelmäßiger körperlicher Bewegung haben ein geringeres Risiko für chronische Krankheiten wie Diabetes und Krebs. Zudem erkranken sie seltener an Depressionen als Personen, die ihre Zeit vor allem sitzend verbringen. Für diese Effekte reichen alltägliche Aktivitäten wie zügiges Gehen oder Radfahren; 150 bis 300 Minuten moderate Bewegung pro Woche empfiehlt die WHO. Durch ein aktives Leben steigt aber auch die Schmerztoleranz, wie eine norwegische Studie mit über 10.000 Erwachsenen nun herausgefunden hat. Das könnte künftig dabei helfen, Schmerzmedikamente einzusparen.
DIE FURCHE · 22 1. Juni 2023 Literatur 13 Bis 7. Juni findet in Innsbruck und an anderen Orten das Internationale Lyrikfestival W:ORTE statt. Anna Rottensteiner, die das Festival seit seiner Gründung bis 2022 mitkuratiert hat, stellt hier eine Auswahl ihrer persönlichen Highlights dieses Jahres vor. Von Wildnis bis Babel *Von Anna Rottensteiner Aufgegebene Industrielandschaften im Herzen Deutschlands oder in fernen sibirischen Städten – das Ende der Welt mit seinen zerstörten, verseuchten, ausgehöhlten und untergrabenen Gebieten, die sich selbst überlassen sind, kann nicht nur im ukrainischen Pripjat, sondern überall sein; einst als Zukunft heraufbeschworen, ist die Gegenwart Zerrbild einer Vergangenheit. Das Innerste des Menschen ist dabei das Bedrohliche und Bedrohte zugleich, seine Häuser und Zimmer sind verlassen und fallen der Wildnis anheim. Mit Daniela Danz ist dieser Tage eine der großen Lyrikerinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in Innsbruck zu Gast. In ihrem Gedichtband „Wildniß“ (Wallstein 2020) knüpft sie an Friedrich Hölderlin und dessen innige, aber nicht reibungslose Haltung zu Natur und Wildnis an. Kühn und streng in der formalen Aufarbeitung und in einer sich der eigenen Unbeholfenheit bewussten und genau in dieser Fragilität überzeugenden Suchbewegung katapultiert und potenziert Danz die Ambivalenz der Haltung zu Natur und Wildnis in die Gegenwart. Wildnis der Rede Diese Wildnis ist dabei überall zu finden: einerseits als Sehnsuchtsbild, als Gegentopos zur immer exzessiveren Naturausbeutung; andererseits aber auch in den Reden und Debatten, in Form von Verrohung und Grobheit. Und so trägt denn einer der drei Zyklen, die den schmalen Band gliedern, den Titel „Wildnis der Rede“. In ihm finden sich vier Gedichte verborgen, die wohl in den ersten Monaten der Pandemie verfasst wurden. „Wildnis der Pause“ ist in einem der Gedichte zu lesen, die bereits so vieles beinahe prophetisch in sich bergen, was die Menschheit drei Jahre lang beschäftigen würde. Das Wort Corona als ein Synonym für die Fermate in der Musik bezeichnet das Ruhe- oder auch Aushaltezeichen. Und was könnte zutreffender sein als diese Metapher für eine Zeit, in der alles innehielt, eine Zeit, in der, wie im Schweigen der Pause, alles vorhanden war, in der „alles was außerdem möglich gewesen wäre“ angelegt war. Die Bewegung, zu der die Menschheit nach der Pandemie zurückgekehrt ist, und auch dies ist im Gedicht durch die Verwendung des Konjunktiv Zwei bereits angelegt, unterscheidet sich allerdings nicht von jener vor der Pandemie, im Gegenteil – die Menschheit hat eine Chance vertan. Was zur Zeit der Verfassung des Gedichts also noch Zukunft war, ist im Gedicht bereits – traurige – Geschichte. Auch der Gedichtband „Die Stadt der Äpfel“ (Hanser 2021) der albanischen Autorin Luljeta Lleshanaku enthält einen Corona-Zyklus. Lleshanakus Familie war aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ehemals vermögenden Klasse jahrzehntelangen Repressalien unter dem Regime von Enver Hoxha ausgesetzt. Luljeta Lleshanaku selbst durfte nicht studieren und konnte erst 1993 debütieren. Von da an wurde sie zu einer hoch geschätzten Dichterin, die mittlerweile wissenschaftliche Leiterin des Instituts für die Aufarbeitung des kommunistischen Genozids in Albanien ist, kontinuierlich publiziert und unter anderem mit dem „ Lleshanakus große Kunst ist es, persönliche Erfahrungen in der Diktatur in ganz konkreten Bildern einzufangen ... “ albanischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet worden ist. Ihre Lyrik ist streng, verhalten und lapidar, dabei genau und sezierend. Oft surreal anmutende Momente wie im Langgedicht „Homo antarcticus“, in dem sie anhand der Biografie des Antarktis-Forschers Frank Wild dem Zusammenhang zwischen Vergessenwerden und Frei-Sein nachspürt und darüber nachsinnt, was es heißt, aus dem Reich der Toten zurückzukehren, sind ihrer Biografie geschuldet: So wurde Lleshanaku wenige Monate vor dem politischen Umsturz im Oktober 1990 für tot erklärt und konnte erst nach einigen Monaten in einem Dorf in den Bergen ihren Verwandten mitteilen, dass sie noch lebte. Ihre große Kunst ist es, persönliche Erfahrungen in der Diktatur in ganz konkreten Bildern einzufangen und zu verdichten und sie so überindividuell erfahrbar zu machen. Das gilt auch für den Corona-Zyklus mit dem Titel „Urbi et orbi“, in dem die Reflexion über Freiheit, die Unmöglichkeit der Flucht und die Aufhebung der Vorstellung von Zeit, Vergänglichkeit und Tod in eindrucksvollen sieben Gedichten verknappt wird. So viel steht fest: Das Bild der Leichentransporte mit Militärlastwägen hat sich in das kollektive europäische Covid-Gedächtnis eingeschrieben. Wenn Andrea Grill in ihrem informativen Nachwort feststellt, dass Lleshanaku „in einer der unbekannteren Sprachen unseres Kontinents […] Zugänge eröffnet, die uns sonst verwehrt blieben“ und sie daher „eine der wichtigsten Dichter*innen des heutigen Europas“ ist, so ist dem vorbehaltlos zuzustimmen. Durchlässigkeit der Sprache Europäisch – global – utopisch – translingual: Poesie und Poetik der zwischen Berlin und New York pendelnden und vielfach ausgezeichneten Dichterin Uljana Wolf leben vom Spiel mit und dem Wechsel zwischen Sprachen und von den neuen Bedeutungsebenen, die sich dadurch eröffnen. Translingual meint nicht Mehrsprachigkeit, bei der mehrere Sprachen in einem Text vereint sind, sondern eine Durchlässigkeit der Sprachen, ein sich Inspirieren-Lassen von einem Wort und dessen Bedeutung in der einen und der frei assoziierten oder in höchst kunstvollem Verfahren erstellten Transposition in eine andere Sprache. Was sich dabei und daraus ergibt, ist bestens und bisweilen höchst vergnüglich nachzulesen in Wolfs Gedichtband „meine schönste lengevitch“ (kookbooks 2013). Die Assoziationen, die allein das Wort „lengevitch“ auslöst, können dabei von einem kleinen Ort im Nirgendwo in Neuengland über „witch“, die Hexe oder (Wort) Zauberin (so Michael Braun in der Laudatio auf Uljana Wolf anlässlich der Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises 2016) bis zur slavischen Endung „itsch“ reichen – der Freiheit des semiotischen Spiels bei der Lektüre sind keine Grenzen gesetzt. Uljana Wolf ist dabei in einer Riege mit internationalen und an einer dichterischen Linguistik sich orientierenden Dichterinnen zu nennen wie Dagmara Kraus, die neue Wörter aus der polnischen und VIELE STIMMEN UND SPRACHEN Foto: Brigitte Schwens-Harrant der deutschen Sprache erschafft und mit diesen Hybridworten oder auch „translingualen Kofferworten“ (Uljana Wolf über Dagmara Kraus) die immer wieder behauptete Nationalität von Sprache(n) unterwandert sowie Denkformen und Schreibnormen polyglott hinterfragt. Ihr, Kraus, und weiteren verwandten Dichter(innen) sind einige der klugen und geistreichen Essays im Band „Etymologischer Gossip. Essays und Reden“ (kookbooks 2022) gewidmet. Wolfs Blick auf Else Lasker-Schüler zum Beispiel befreit diese aus der Enge der Zuweisungen, indem sie in ihrem Aufsatz „Heimliche Heimat“ sich sowohl sprachspielerisch als auch wissenschaftlich profund auf die Spuren von Lasker-Schülers „Ankunftssprachen“ begibt; dasselbe gilt für ihre Auseinandersetzung mit Christine Lavant oder Ilse Aichinger. Geradezu beflügelnd und befreiend liest sich der Essay „Etymologischer Gossip im Gedicht“, der zu Recht das grandiose Finale des Essaybandes bildet und in dem Wolf ihre utopische Vision der nomadischen, der migrantischen Sprache darlegt (der sie in ihren eigenen Gedichten folgt): „Kofferworte“ werden zu „Offenworten“ und „Wortofferten“, in denen durch die Aufsprengung der Einsprachigkeit translinguale und poetische Variationen geschaffen und Etymologien vor der Verfestigung durch die Nationalsprachen in ihren Luftwurzeln spielerisch und imaginativ freigelegt werden. Die Utopie einer Sprache, in der sowohl der „Hallraum des kulturellen Gedächtnisses“ als auch die Möglichkeit eines Babel-Sprechens enthalten ist, das nicht auf Ausgrenzung und Unterdrückung beruht. Poesie, das beweisen die Gedichte sowie die Essays von Uljana Wolf, macht das denkbar und somit möglich. Internationales Lyrikfestival W:ORTE Bereits zum achten Mal findet das Internationale Lyrikfestival W:ORTE statt, das, von einem Team rund um das Literaturhaus am Inn und den Verein 8ung Kultur in Innsbruck gegründet und weiterhin veranstaltet, mittlerweile von dort aus seine poetischen Spuren an sieben Orte zieht und den lyrischen Radius nach Brixen, Hohenems und Wien ausweitet. Von Anfang an auf hohes Formbewusstsein und auf Vielsprachigkeit setzend, sind heuer insgesamt elf Länder und zahlreiche Sprachen präsent. Neben Doyens und Doyennes der österreichischen Literatur wie Robert Schindel oder Barbara Hundegger werden auch junge Stimmen wie jene von Sarah Kuratle oder Precious Chiebonam Nnebedum zu hören sein; das Tiroler Kammerorchester InnStrumenti wird – ein Alleinstellungsmerkmal von W:ORTE in der Festival-Landschaft – wie jedes Jahr Texte eines Lyrikers in Vertonungen darbieten, heuer von Raphael Urweider; und einen äußerst zeitgemäßen Schreibworkshop mit dem Berliner Dichter Mikael Vogel zu Eco Poetry wird es ebenfalls geben. Infos: lyrikfestival.com. (AR)
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