DIE FURCHE · 22 10 Diskurs 1. Juni 2023 Den gesamten Briefwechsel zwischen Johanna Hirzberger und Hubert Gaisbauer können Sie auf furche.at bzw. unter diesem QR-Code nachlesen. ERKLÄR MIR DEINE WELT Der Alltag wäscht sich in Routinen aus Johanna Hirzberger ist Redakteurin von „Radio Radieschen“ und freie Mitarbeiterin von Ö1. Nein. Bewunderndes Anschauen gibt es nicht, wenn es sexualisierte Blicke sind. Zumindest für mich. Und um ehrlich zu sein, je häufiger ich diese Gespräche rund um bewunderndes Anschauen und „man darf ja nicht mal mehr Komplimente machen“ führe, desto radikaler werde ich in meiner Meinung. Ich bin kein Gemälde. Und ich bin auch keine Straßenkatze, die man beim Vorbeigehen streicheln darf. Dieser Vergleich bezieht sich auf einen Vorfall vor ein paar Jahren. Ich spazierte lachend mit zwei Freundinnen durch den ersten Wiener Gemeindebezirk. Eine Dame mittleren Alters mit goldenen Ohrringen passierte uns. Sie streckte ihren Arm zu mir aus und griff nach meinem Haar. Verdutzt blieb ich stehen. „Sind die echt?“, hörte ich sie fragen. Tja, wie reagiert man in so einer Situation? So, genug der Anekdoten. Zumindest vorerst. Kommen wir zurück in die Gegenwart. Brennnesseln im Ohr „ Eine Dame mittleren Alters griff nach meinem Haar. ,Sind die echt?‘, hörte ich sie fragen. Wie reagiert man in so einer Situation? “ Die letzten Tage habe ich in Island verbracht, auf einer Radio Feature Konferenz. Ich liebe den internationalen Austausch und das gemeinsame Hören von Radiodokumentationen. Speziell jenen, die ich außerhalb dieser Veranstaltung nicht verstehen würde. Dänische, französische, finnische Stücke – sie alle werden bei diesem Event in englischer Sprache untertitelt. Und so gewinnt man plötzlich Einblicke in Erzähl- und Hörkulturen anderer Länder. In den vergangenen Jahren war das Programm ein prachtvoller Blumenstrauß aus musikalischen Mohnblumen, szenischen Sonnenblumen und dramaturgischen Disteln. Ja, ich weiß diese Pflanzen haben diese Eigenschaften nicht, aber klammern wir das einfach einmal aus. Um also bei diesem wirklichkeitsfremden Gleichnis zu bleiben, begegnete ich heuer eher Brennnesseln. Das heißt, die Farben der Geschichten waren monoton und manchmal empfand ich das Zuhören sogar als unangenehm. Zum Beispiel, als ich etwa 15 Minuten lang einer Person zuhören sollte, die im Schlaf spricht. Und das in drei Akten. Ich gestehe, in diesem Fall wäre mir sogar eine Brennnessel im Ohr lieber gewesen. Während ich also im dunklen Kinosaal saß und um meine eigene Aufmerksamkeit ringen musste, fragte ich mich, warum ich so begeisterungslos bin. Liegt es an meiner Erfahrung, dass ich mittlerweile schon einige sehr gute Features gehört habe und die Messlatte höher liegt? Ist es vielleicht auch der Zeitgeist, der meine Konzentration senkt, weil ich immer wieder aufs Smartphone schauen muss und ungeduldig werde, wenn ich nicht alle sieben Sekunden einem neuen Reiz ausgesetzt bin? Oder waren die ausgewählten Stücke einfach schablonenhaft? Diese Fragen bringen mich zu einem Satz aus ihrem letzten Brief. Sie schreiben, dass Sie nichts Neues ausprobieren, weil Sie sich nichts mehr beweisen müssen, aber wird Ihnen dann nicht langweilig? Ich finde, der Alltag wäscht sich in Routinen aus. Also wünsche ich mir für Sie, dass Sie nicht länger einen fiktiven Waldboden romantisieren, sondern sich Ihre Sandalen ausziehen und losspazieren. Vielleicht können wir beide danach gemeinsam Antworten auf meine Fragen finden. Falls Sie es also wagen, wünsche ich Ihnen viel Erfolg und schmackhafte Walderdbeeren. Das sind meine liebsten! Von Matthias Greuling Peter Simonischek ist 76-jährig verstorben. 2018 In FURCHE Nr. 25 sprach der Charakterschauspieler in der FURCHE über 3800 21. Juni 2018 seine Rolle in „Dolmetscher“ – und über Wahrheit. Er hat in den großen Dramen am Theater ebenso brilliert wie in Komödien vor der Kamera: Peter Simonischek, einer der bekanntesten Schauspieler des Landes, ist in der Nacht auf Dienstag verstorben. Aufgewachsen in der Oststeiermark, war er nach Engagements am Grazer Schauspielhaus, in St. Gallen und Bern von 1979 bis 1999 unter Peter Stein und danach Andrea Breth Ensemblemitglied an der Berliner Schaubühne. Danach wechselte er unter Klaus Bachler ans Wiener Burgtheater, von 2002 bis 2009 gab er bei den Salzburger Festspielen einen umjubelten „Jedermann“. Parallel dazu war Simonischek stets auch auf der Leinwand und im TV zu sehen: Er spielte etwa in Axel Cortis „Herrenjahre“ (1983) oder „Gebürtig“ (2022) von Lukas Stepanik und Robert Schindel. Für seine Verkörperung eines kauzigen Musiklehrers in „Toni Erdmann“ (2016) wurde er mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. 2018 spielte er im tragikomischen Roadmovie „Dolmetscher“ Georg Graubner, den Sohn eines SS-Offiziers. Im damaligen FURCHE-Interview reflektierte Simonischek über das Thema Wahrheit – und Österreichs Politik. DIE FURCHE: Im Film „Dolmetscher“ suchen zwei betagte Menschen die Wahrheit. „Über damals wurde nicht geredet“ Peter Simonischek: Der Film will zeigen, dass viele von uns schon zu bequem geworden sind, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Das muss nicht sein, denn man kann auch im Alter noch versuchen, die Wahrheit zu finden. Und gerade in Zeiten wie diesen, in denen wieder so viel gelogen wird, ist es wichtig, die Wahrheit zu suchen. Inzwischen gibt es ja Wahrheit und alternative Wahrheiten. Ein unfassbarer Zynismus. DIE FURCHE: Ein Alarmzeichen? Simonischek: Das erste, was auf der Strecke bleibt, ist immer die Wahrheit. Und heute wird schon wieder so viel gelogen, dass man richtig Schiss bekommt. Mein Vater sagte mir diesen Satz: „Alles ist besser als Krieg.“ Mein Großvater war nach dem Krieg einmal mit mir im Kino, das war in den 1950ern, vielleicht war ich damals zehn Jahre alt. Da sah ich einen Film, der die Befreiung von Auschwitz und die Judenverfolgung zeigte. Ich will nicht sagen, dass ich als Kind wirklich verstanden habe, was da passierte. Aber ich war nicht jemand, der auf Waldheim warten musste, bis er diese Sachen zur Kenntnis genommen hat. In der Schule haben wir nichts gelernt darüber. Es wurde kein Wort über den Zweiten Weltkrieg verloren, gar nichts. Über diese Zeit wurde nicht geredet. Foto: APA / AFP / Tobias Schwarz DIE FURCHE: Wie schätzen Sie die neue türkisblaue Regierung ein? Simonischek: Ich war mein ganzes Leben links. Aber was daraus geworden ist, ist ebenfalls ernüchternd. [...] Jetzt muss man mal genau hinschauen. [...] Als Schauspieler bin ich stets bedacht, die richtigen Mittel zum richtigen Anlass zu wählen. Denn wenn man sich beim Öffnen des Vorhangs schon heiser geschrieen hat, hat man keine Steigerungsmöglichkeit mehr. AUSGABEN DIGITALISIERT VON 1945 BIS HEUTE ÜBER 175.000 ARTIKEL SEMANTISCH VERLINKT DEN VOLLSTÄNDIGEN TEXT LESEN SIE AUF furche.at Medieninhaber, Herausgeber und Verlag: Die Furche – Zeitschriften- Betriebsgesellschaft m. b. H. & Co KG Hainburger Straße 33, 1030 Wien www.furche.at Geschäftsführerin: Nicole Schwarzenbrunner, Prokuristin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Chefredakteurin: Mag. Doris Helmberger-Fleckl Redaktion: Dr. Otto Friedrich (Stv. Chefredakteur), MMaga. Astrid Göttche, Dipl.-Soz. (Univ.) Brigitte Quint (Chefin vom Dienst), Jana Reininger BA MA, Victoria Schwendenwein BA, Dr. Brigitte Schwens-Harrant, Dr. Martin Tauss, Mag. 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DIE FURCHE · 22 1. Juni 2023 Diskurs 11 Die hiesige Regierung lehnt Assistenz bei der Entminung der Ukraine ab, weil dies eigene Soldaten gefährden würde. Ist diese Argumentation legitim? Ein Gastkommentar über Post-Heroismus. Würden Sie Österreich mit der Waffe verteidigen? Am Pfingstwochenende wurde einmal mehr klargestellt, dass keine Soldaten des österreichischen Bundesheeres zur Entminung in die Ukraine entsendet werden: „Wer österreichische Soldaten in ein Kriegsgebiet schicken will, der riskiert, dass sie nicht mehr lebend zurückkommen“, hatte Karl Nehammer bereits vor zwei Wochen verlautbart. Derartige Aussagen kommen nicht von ungefähr. Vielmehr stehen sie exemplarisch für etwas, das der deutsche Politologe als „postheroische Gesellschaften“ umschrieben hat. Die Bereitschaft, sein Leben in einem anderen Land zu riskieren, ist naturgemäß noch niedriger als bei der eigenen Heimat. Und sie ist nicht einmal da sonderlich hoch: Einer älteren Umfragen – aus dem Jahr 2015 – zufolge würden nur etwa 21 Prozent der Befragten ihr Land mit der Waffe verteidigen, in Deutschland 18 Prozent. Daran dürfte sich trotz der russischen Aggression gegen die Ukraine wenig geändert haben, ganz im Gegenteil: Laut einer Erhebung vom Februar 2023 sind nur zehn Prozent der Deutschen „darauf eingestellt“, im Kriegsfall zur Waffe zu greifen, nur fünf Prozent würden das freiwillig tun. Dem steht ein Viertel entgegen, das Reißaus nehmen würde. Für Österreich gibt es (noch) keine vergleichbare rezente Umfrage. Man darf aber davon ausgehen, dass es nicht wesentlich anders aussieht. Foto: Elisabeth Pfneisl te sie doch in einer Welt, die wir hinter uns gelassen haben: Eine Welt, in der der Krieg als unabdingbare Möglichkeit erscheint, Ehre zu erlangen und zu verteidigen. Lange Phasen des Friedens galten hier nicht als Errungenschaft, sondern als fehlende Gelegenheiten. Wohin das geführt hat, ist bekannt. Daher ist Westeuropa seit Ende des Zweiten Weltkriegs dazu übergegangen, kriegerische Notwendigkeiten mit friedlichen Versprechen zu ersetzen: freiwillige Kooperation statt Aggression und Eroberung, individueller Wohlstand statt nationalem Ruhm. Eine Denkart, die nach dem Kalten Krieg Richtung Osten erweitert wurde. DIESSEITS VON GUT UND BÖSE Von Ralph Janik „ Ob Drohnen oder Kampfroboter: Die Vermeidung eigener Opfer steigert jene der anderen. “ Allein, andere Teile des Ostens wollten hier nicht mitmachen. Russland hat Europa mit seiner Aggression gegen die Ukraine in eine Mischung aus dem von Von Suttner skizzierten Reichsdenken des 19. Jahrhunderts und den Feldzügen der beiden Weltkriege zurückkatapultiert. Seitdem spricht man neben altbekannten Themen wie Pflegenotstand, Pensionen oder Bildung über Verteidigungsetats, Waffentypen und Taktiken. Uniformierte Männer sind von einer medialen Randerscheinung zu einem fixen Bestandteil der Berichterstattung geworden. Selbst der grüne Vizekanzler Werner Kog- „Die Waffen nieder!“ Das war nicht immer so. Im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es noch den „Heldentod“, auf dem Schlachtfeld trat der Einzelne hinter der größeren Sache zurück: „Ein Reich, ein Staat lebt ein längeres und wichtigeres Leben als die Individuen. Diese schwinden, Generation um Generation, und das Reich entfaltet sich weiter; wächst zu Ruhm, Größe und Macht, oder sinkt und schrumpft zusammen und verschwindet, wenn es sich von anderen Reichen besiegen lässt“, stimmt der fiktive Vater der Protagonistin in Bertha von Suttners Pazifismus-Klassiker „Die Waffen nieder!“ von 1899 sein Loblied auf patriotische Kriege an. Von Suttner kritisierte den kollektiven Wahn, für Staat und Reich kämpfen und gegebenenfalls sterben zu müssen, ja gar zu „dürfen“. Lebler gab letzten Sommer bekannt, Österreich mit der Waffe verteidigen zu wollen – und bezeichnete seine frühere Teilnahme an Demonstrationen gegen die NATO als „Fehler“. Ob aus theoretischen auch praktische Helden werden, lässt sich freilich nur im Falle eines (hoffentlich nie eintretenden) Falles sagen. Umgekehrt könnten viele deklarierte Deserteure doch anders handeln. Umfragen sind bekanntlich mit Vorsicht zu genießen. Auswege: Neutralität und Technologie Und dennoch: Wie die Debatte zur Entminung der Ukraine gezeigt hat, gibt es keine Anzeichen für einen aufkeimenden Post-Post-Heroismus. Die Sehnsucht nach (mehr und restriktiver) Neutralität und – in Deutschland – die emotionale Debatte rund um den Begriff der „Kriegspartei“ zeugt eher vom Gegenteil: Nichteinmischen als Garant für Frieden und Sicherheit: Wenn ich niemandem etwas tue, wird mir auch niemand etwas tun. „Das ist nicht unser Krieg“ – lautet die Devise. Sollen sie doch selbst entminen! Wenn alle Passivität nichts hilft, gibt es immer noch technologische Heilsversprechen: der außerhalb der Reichweite von Flugabwehr fliegende Kampfjet, die aus sicherer Distanz gesteuerte Drohne oder – als Endstufe – der vollautomatisierte Kampfroboter. Wer nicht genügend junge Männer hat oder haben will, opfert Maschinen. Nur: Hohe Flughöhe führt zu geringerer Präzision – der US-Politologe Michael Ignatieff sprach schon anno 1999 im Zusammenhang mit den NATO-Luftangriffen gegen Serbien unter Slobodan Milošević von einem „virtuellen Krieg“, bei dem die Gefahr einseitig verteilt ist. Dem Drohnenpilot kann das Schlachtfeld wie ein Videospiel erscheinen (Gamification), auf dem die Tötung vielleicht „humaner“ erscheint, aber immer noch eine Tötung ist. Und der Kampfroboter gibt seit jeher Anlass für generalisiert-dystopische Ängste. Die Vermeidung eigener Opfer steigert freilich jene der anderen. Man kann nicht nichts haben. Der Autor ist Universitätslektor für Völkerrecht, u. a. an der Sigmund Freud Privatuniversität und der Universität Wien. QUINT- ESSENZ Von Brigitte Quint Politische Biologie „Es gibt keine Denkverbote.“ Ein Satz, den Bundeskanzler Nehammer gegenwärtig gebetsmühlenartig verkündet. Vor allem, wenn er auf Reizthemen – Verbrennungsmotoren, Geflüchtete an den EU-Außengrenzen, Koalitionen mit der FPÖ, Vetos in Brüssel, Reisen nach Moskau, Afrika, auf den Mond – angesprochen wird. Scheinbar haben hier seine Kommunikationstrainer ganze Arbeit geleistet. Sie trichterten Nehammer ein, dass ihm keiner widersprechen wird. Welcher aufgeklärte Bürger fordert schon Denkverbote? Ein Nein zu Denkverboten ist gleichbedeutend mit einem Ja zu Freiheit, Demokratie, Toleranz und Menschenliebe. Meinen Kommunikationsprofis. Weil meines Wissens noch niemand Gedanken lesen kann, kann einem das Denken bzw. das, was man denkt, sowieso keiner verbieten. Für diese Info brauche ich keinen Kanzler. Meine Gedanken dürfen verwaschen und unkenntlich sein; ein dumpfes Chaos von Splittern und wortlosen Bildern bilden, sich aneinanderreihen oder überlagern. Auch müssen sie keinen Sinn ergeben. Sie dürfen es, das schon. Ich habe in diversen Fachbüchern für Neurologie geblättert und erfahren, dass dem Menschen jeden Tag zwischen 60.000 bis 80.000 Gedanken durch den Kopf gehen. In diesen Prozess involviert sind noch jede Menge Neurotransmitter, Hormone, Adrenalin, Cortisole, Histamine, Endorphine und Vasopressine. Und das ist jetzt nur ein Bruchteil der Substanzen, die in der Literatur aufgelistet sind. So biologisch sich das alles anhört – Denken ist äußerst politisch. Siehe Nehammer. Der Mensch ist seinen Gedanken mitnichten hilflos ausgeliefert. Er kann sie steuern, sie disziplinieren. Und das wiederum prägt die Persönlichkeit – die sich durchaus verändern kann, wenn man zu undiszipliniert denkt. Das Schlüsselwort heißt Neuroplastizität. Was das bedeutet? Dass Denken Realitäten erschaffen kann. Den Satz „Es gibt keine Denkverbote“ sollte Nehammer daher überdenken. Ich bin dafür, darüber nachzudenken, was man da vor sich hindenkt. Ja, und wenn es sein muss, dann gilt es, sich den Inhalt zu verbieten, bevor dieser sich nach draußen Bahn bricht. Das gilt vor allem für Regierungschefs. PORTRÄTIERT Der Altvordere der österreichischen Muslime Dass die Republik Österreich, die ihn 2008 mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen mit dem Stern ausgezeichnet hatte, seinen Namen 2020 im Rahmen der „Operation Luxor“ in Zusammenhang mit der Muslimbruderschaft und mit terroristischen Aktivitäten gebracht hatte, hat Anas Schakfeh bis heute nicht verwunden. Auch wenn die polizeilichen Aktivitäten, die unter anderem in Hausdurchsuchungen bei der nach ihm benannten Stiftung in Wien-Liesing gipfelten, gerichtlich längst eingestellt wurden, beklagt der vor Kurzem 80 Jahre alt Gewordene den nachhaltigen „ideellen und materiellen Schaden“, welche die vom Innenministerium initiierte Aktion angerichtet habe. Als Anas Schakfeh 1997 Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) wurde, waren die Zeiten noch anders: Österreich war stolz, mit der Reaktivierung des Islamgesetzes 1912 bereits eine rechtliche Grundlage für Anerkennung der Muslime im Land zu haben, und Schakfeh bemühte sich – vom Religionsunterricht angefangen über die nötigen Institutionen (Schulamt, Islamische Religionspädagogische Akademie etc.) – insbesondere im Bildungsbereich offizielle Strukturen für den Islam in Österreich zu schaffen. Der 1943 im syrischen Hama Geborene war 1964 nach Österreich gekommen, wo er unter anderem Arabistik studierte und als gerichtlich beeideter Arabisch-Dolmetscher tätig war. Schakfeh gehörte zu den ersten islamischen Religionslehrern und war am Aufbau der IGGÖ beteiligt. Während seiner Präsidentschaft (1997–2011) war er bemüht, die IGGÖ als österreichische Organisation zu etablieren, wobei die türkisch-muslimischen Organisationen, die in Österreich die meisten Muslime repräsentieren, sich erst nach 2011 ihrer zahlenmäßigen Stärke gemäß für die IGGÖ engagierten. Schakfeh hatte zu seinem Amtsende versucht, der IGGÖ eine Verfassung zu geben, die eine ethnische Dominanz verhindern sollte. Konflikte um die Ausrichtung der IGGÖ, das neue restriktive Islamgesetz 2015 sowie die daraus resultierende Verfassung machten aber aus der IGGÖ ein Konglomerat von ethnisch dominierten Kultusgemeinden – ein Konzept, das mit dem von Schakfeh angedachten wenig gemein hat. Die Muslimische Jugend Österreich, deren Ehrenpräsident Anas Schakfeh ist, und Wiens Landeshauptmann Michael Ludwig ehren den Altvorderen der österreichischen Muslime am 6. Juni zum 80er mit einer Feier im Wiener Rathaus. (Otto Friedrich) Foto: APA / Georg Hochmuth Ana Schakfeh, 1943 im syrischen Hama geboren, lebt seit 1964 in Österreich. 1997 bis 2011 war er Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft .
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