22 · 1. Juni 2023 DIE ÖSTERREICHISCHE WOCHENZEITUNG · SEIT 1945 79. Jg. · € 4,– Vom großen kleinen Bruder Franz „Der letzte Christ“: Adolf Holls Biografie des Franz von Assisi aus 1979 wird neu aufgelegt. Eine lohnende Wiederlektüre · Seite 9 Die vergebene Chance der Sozialdemokratie Wie der Wertewandel Berufe verändert Von Wildnis bis Babel Am 3. Juni kürt die SPÖ ihren neuen Vorsitzenden. Kann sie noch Zukunftspartei werden? Ein Gastkommentar von Anton Pelinka. · Seite 5 Nachhaltigkeit, Vielfalt, Tierschutz: Was der Jugend wichtig ist, prägt die Arbeitswelt. Werden diese Variablen berücksichtigt? · Seite 8 Bis 7. Juni findet das Internationale Lyrikfestival W:ORTE statt. Großartige Lyrikerinnen sind dabei zu hören und zu sehen. · Seite 13 Das Thema der Woche Seiten 2–4 Foto: Bildnachweis Russisch in Zeiten des Krieges Weltliteratur entsteht aus ihr, sie ist aber auch Gehilfin der Barbarei. Welche Folgen hat das? Ein Fokus anlässlich des internationalen Tages der russischen Sprache am 6. Juni. Internationale Realpolitik heißt auch, mit jenen zusammenarbeiten zu müssen, die Menschenund Bürgerrechte sabotieren. Steht das westliche Wertesystem vor einem Kollaps? Glaubwürdige Währung Von Brigitte Quint „ Was Außenstehende verstört: Demokratien fühlen sich überlegen, obwohl es andere sind, die aufsteigen. “ tig auf den Olymp katapultiert. Vermutlich strebt Erdoğan eine Änderung der Verfassung an, die ihm eine lebenslange Herrschaft sichert. Gleichzeitig wird er darauf hinarbeiten, die Türkei als eigenständige regionale Macht aufzustellen, gegen die im Mittleren Osten, in Zentralasien und Nordafrika keine ordnungspolitischen Entscheidungen umgesetzt werden können. Das türkische Wahlergebnis löst im Westen Entsetzen und Irritation aus. Diese Impulse gilt es in den Griff zu kriegen. Dass Biden, Macron, Scholz und Co. dem neuen alten Präsidenten gratuliert und ihn für Staatsbesuche eingeladen haben, ist keine Wendehals-, sondern Realpolitik. Allerdings sollte letztere reformiert werden. „Spätrömische Dekadenz“ Die internationale Gemeinschaft besteht mehr und mehr aus Staaten, in denen westliche Vorstellungen im besten Falle hingenommen, im schlechtesten Falle missbilligt werden. Westliche Staatenlenker stehen vor der Herausforderung, mit Regierungschefs zusammenzuarbeiten, die Menschen- und Bürgerrechte sabotieren und für die Repression und Bestechlichkeit auf der Tagesordnung stehen. Die Moralkeule Die internationale Ordnung befindet sich in einem Prozess hin zur Multipolarität – und nun hat ein zentraler Player seine Macht zementiert: Recep Tayyip Erdoğan. Westliche Zivilgesellschaften und jene Türk(inn)en, die die Zukunft ihres Landes in einer liberalen Demokratie wähnten, hofften auf eine Abkehr von Erdoğans Autokratie. Mit etwas Abstand betrachtet, mutet das fast naiv an. „Anzunehmen, dass die Türkei das erste Land ist, das einen Autokraten durch Wahlen abschüttelt, ist reines Wunschdenken“, erklärte Yavuz Baydar, Chefredakteur der exiltürkischen Plattform Free Turkish Press im Vorfeld der Wahlen. Er sollte Recht behalten. Denn die rechtspopulistische und neo-osmanische AKP und ihr Vorsitzender hatten vorgesorgt: Erdoğan kontrollierte längst die meisten türkischen Institutionen, drängte Liberale und Kritiker ins Abseits, schlug Proteste nieder, verhinderte Korruptionsermittlung gegen seinen engsten Kreis. Nun hat er sich mit „legalen Lügen“ und Putins Milliarden-Dollar-Wahlhilfen (das Gerücht, dass dafür sensible NATO-Informationen nach Moskau geliefert wurden, hält sich hartnäckig) endgülschwingen oder eine Zeigefinger-Politik à la Baerbock zu betreiben, hat sich nicht bewährt. Das mutet wie „spätrömische Dekadenz“ an, wie der verstorbene FDP-Politiker Guido Westerwelle einst treffend zuspitzte. In der Tat dürfte es – von außen betrachtet – verstörend sein, wenn sich demokratische Staaten überlegen fühlen, obwohl es gegenwärtig andere sind, die aufsteigen. Ein Negativbild, das sich potenziert, wenn diese hochgelobten Werte ignoriert und faule Deals abgeschlossen werden, sobald es darum geht, Interessen zu wahren. Das berühmteste Beispiel in Bezug auf Erdoğan: das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen. Auf der einen Seite wurde er für seinen islamisch-nationalistischen Kurs öffentlich verachtet, auf der anderen Seite überhäufte man ihn mit Geld und stellte ihm einen geopolitischen Freifahrtschein aus. Weil die Angst vor Immigration so groß ist, gleicht dieser Deal einem Faustpfand – zumal die Zahlen steigen und alle EU-Mitglieder auf eine härtere Abschottungspolitik setzen. Wer Werte in die Welt hinaustragen will, muss sich selbst an sie halten. Diese Maxime erfordert wiederum, dass der Westen, insbesondere die Europäische Union, lernt, mit den gegenwärtigen Herausforderungen – Zuwanderung, Wohlstandsverlust, mangelnde Wehrhaftigkeit, geostrategischer Wettbewerb, Kriege und Konflikte an den Außengrenzen – eigenständig umzugehen. Die Glaubwürdigkeit ist die entscheidende Währung, wenn es darum geht, einen Kollaps des westlichen Wertesystems zu verhindern. brigitte.quint@furche.at AUS DEM INHALT „Ausverkauf“-Stimmung bei Investoren Die weltweit mächtigsten privaten Kapitalfonds strecken ihre Fühler in die Ukraine aus. Wer künftig die Wirtschaft des Landes prägen wird. Seite 6 Von hoher Qualität Filmfestival Cannes 2023: Goldene Palme für Justine Triets Gerichtssaalfilm „Anatomy of a Fall“, Großer Preis der Jury fürs Auschwitz- Drama „The Zone of Interest“. Seite 16–17 Schätze vor der Haustür Am Tag der Artenvielfalt gehen Experten und Laienforscher gemeinsam auf Entdeckungsreise – und vermitteln Bewusstsein für Biodiversität. Seiten 18–19 Korrektes Klingeling Ist die Nachsilbe „-ling“ verniedlichend? Daniela Strigl über heute verpönte Begriffe und den Umgang damit. Seite 20 Melancholie am Spielplatz Die Choreografin, Performerin und Tanzpädagogin Doris Uhlich im FURCHE- Gespräch über einen Ort der Kindheit, den sie im Rahmen der Wiener Festwochen ins Zentrum ihrer Arbeit stellt. Seite 20 furche.at Österreichische Post AG, WZ 02Z034113W, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien DIE FURCHE, Hainburger Straße 33, 1030 Wien Telefon: (01) 512 52 61-0
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