DIE FURCHE · 5 4 Das Thema der Woche Justiz im Vormarsch 1. Februar 2024 Labor für Weltjustiz Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sieht aus wie ein riesiger Rubik-Würfel. Auch die Verhandlungen im Gericht lassen sich mit kniffligen Drehpuzzles vergleichen. Von Wolfgang Machreich Die Straßenbahnlinie 1 fährt in die Haltestelle „Vredespaleis“ ein. Es ist Freitag, 12. Jänner 2024, acht Uhr in der Früh. Eine Gruppe Fahrgäste mit Palästina-Flaggen an langen Stöcken steigt aus. Auf dem Platz vor dem Friedenspalast in Den Haag hängen andere Demonstranten Banner mit der Aufschrift „Gerechtigkeit für Palästina“ an die Absperrzäune, verteilen Lautsprecher und bauen eine Videoleinwand auf. Berittene Polizei lässt ihre Pferde vor dem Eingang zum Sitz des Internationalen Gerichtshofs tänzeln. Um zehn Uhr wird IGH-Präsidentin Jean E. Donoghue den zweiten Tag der Anhörung im Gefolge der Klage Südafrikas gegen Israel mit dem Vorwurf des Völkermords im Gazastreifen eröffnen. In der Morgendämmerung und erhellt von Kristalllustern, die hinter den Fenstern in den Arkadenbögen leuchten, sieht der „Friedenspalast“ wie ein Märchenschloss aus. Das Versprechen, das mit dem Weltgericht an dieser Adresse einhergeht, klingt auch märchenhaft schön: Anstatt mit Waffengewalt und Krieg, auch wenn dieser „Spezialoperation“ genannt wird, sollten Staaten ihre Territorialstreitigkeiten oder völkerrechtlichen Klagen vor dieses höchste Rechtsorgan der UNO bringen und – eingehegt in juristischen Bahnen – auf friedlichem Weg lösen. Der Artikel „Serbien: Ein Prozess beginnt“ vom 4. April 2001 beschreibt die Hintergründe zur Verhaftung von Slobodan Milošević; nachzulesen auf furche.at. Straßenbahnfahrt durch Den Haag, von einem Internationalen Gerichtshof zum anderen. An jeder Haltestelle zeigen sich Ausblicke auf das Ziel Weltgerichtsbarkeit. Eine Reportage. Gerichtepuzzle für weltweite Gerechtigkeit Vorbilder Mandela und Gandhi Man stelle sich vor, Russland hätte den IGH angerufen, anstatt die Krim zu okkupieren und in die Ukraine einzumarschieren; oder Aserbaidschan hätte im Streit um Bergkarabach auf den Spruch der 15 Richterinnen und Richter anstatt auf die Feuerkraft seiner Armee gesetzt. Utopie oder Vision? Im IGH hat man sich für Letzteres entschieden. Das zeigen die im Korridor zum Verhandlungssaal aufgestellten Büsten von Nelson Mandela und Mahatma Gandhi. Ums Eck steht eine Vitrine mit Ziertellern. Ein Teller feiert den Frieden von Versailles zur Beendigung des Ersten Weltkriegs. Dass damit das zwischenstaatliche Porzellan in Europa nicht gekittet wurde, zeigen die auf Versailles und die anderen Pariser Vorortverträge folgenden Verwerfungen – bis zum Zweiten Weltkrieg. Eine Warnung, dass Siegerjustiz letztlich wieder zu viele Verlierer für einen dauerhaften Frieden produziert. „Hättiwari“ sagt man in Österreich zu verpassten Gelegenheiten. It takes two to tango, heißt es im englischen Sprachraum, wenn es darum geht, dass sich beide Seiten mit Gespür für das Gegenüber bewegen müssen, um – egal ob beim Tango oder auf dem politischen und diplomatischen Parkett – in Gleichtakt zu kommen. US-Präsident Ronald Reagan hat mit dieser Tangometapher 1982 die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion beschrieben. Doch an diesem Verhandlungsvormittag wird im ehrwürdigen Friedenspalast nicht Tango getanzt. Israel legt Beweise vor, die sein Recht auf Selbstverteidi gung belegen – und verteidigt sich gegen den Vorwurf des Völkermords mit einer akribischen Exegese der Genozid-Konvention. „ Der Friedenspalast in Den Haag sieht aus wie ein Märchenschloss. Das Versprechen, das mit dem Weltgericht an der Adresse einhergeht, klingt auch märchenhaft schön. “ Die Anhörung ist historisch, markiert eine Marke auf dem Weg zur Etablierung einer Weltgerichtsbarkeit. Untersuchungen über die Wirksamkeit des Gerichts zeigen, dass die meisten Urteile des IGH befolgt werden, auch wenn der Gerichtshof auf keinen schlagkräftigen Mechanismus zur Durchsetzung seiner Entscheidungen zurückgreifen kann. Entscheidend dafür ist, dass jeder IGH-Spruch imstande ist, weltweit politischen und medialen Druck aufzubauen. Gaza-Position der Mitte Zwei Wochen nach der Anhörung im Den Haager „Vredespaleis“, am Freitag vorige Woche um 14 Uhr, verkündete Gerichtspräsidentin Donoghue die Eilentscheidung des IGH. Wichtig für Israel: Es wird nicht zu einer sofortigen Waffenruhe im Gazastreifen verpflichtet. Zentral für Südafrika: Israel wird aufgefordert, alle Maßnahmen zu ergreifen, um Taten des Völkermords zu verhindern. Die Entscheidung des Gerichts lässt sich als Versuch interpretieren, die Zivilbevölke rung in Gaza zu schützen, ohne Israels Recht auf Selbstverteidi gung einzuschränken. Eine Position der Mitte, die, so die Hoffnung, die Gemäßigten auf beiden Seite stärkt. Oder wie Mo hammad Al-Liftawi, ein Händler aus der Altstadt Foto: Wolfgang Machreich von Jerusalem, in einem Korrespondentenbericht den IGH-Spruch kommentierte: „Ich wünsche mir, dass sich durch die zukünftige Überwachung des Gerichts die Lage langsam wieder beruhigt.“ Steigt man an der Haltestelle „Vredespaleis“ wieder in die Straßenbahnlinie 1 stadtauswärts ein, kommt man zwei Stationen weiter an der Johan de Wittlaan vorbei. Ein Gebäude ragt wie der Bug eines Ozeandampfers in die Straße hinein. Zwischen 1993 und 2017 war hier der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien angesiedelt. 1999 erließ das Jugoslawientribunal erstmals einen internationalen Haftbefehl gegen einen amtierenden Regierungschef. Slobodan Milošević wurde der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. 2002 begann die Verhandlung mit ihm als Angeklagtem und Verteidiger in eigener Sache zugleich. Die weitere Route der Straßenbahn 1 in Richtung Nordseestrand folgt dem Weg, den Milošević jeden Verhandlungstag bis zu seinem Tod 2006 zwischen dem UN-Gefängnis in Scheveningen und dem Tribunal hin- und hergefahren ist. Von Milošević zu Thaçi Wer an der Endstation der 1er-Linie am Noorderstrand in die 9er-Straßenbahn umsteigt, fährt auf einer anderen Strecke wieder in die Stadt hinein und in die Zeit der Jugoslawienkriege zurück. Vis-à-vis der Haltestelle Riouw-Straat befindet sich die „Kosovo Specialist Chamber“. Einer der Angeklagten dieses Sondergerichts ist Hashim Thaçi, früherer Ministerpräsident und Präsident des Kosovo. Als Mitbegründer und Führer der paramilitärischen UÇK soll er während des Kosovokrieges 1999 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Eine Anklage, die auch gegen Alfred Yekatom vorgebracht wird. Der Fall des zen tralafrikanischen Ex-Milizenchefs wird am Internationalen Strafgerichtshof (IstGH) verhandelt, zehn Minuten Busfahrt mit der Linie 20 vom Kosovo-Gericht entfernt. Dieses Gerichtsgebäude sieht aus wie ein riesiger Rubik-Würfel. Auch die Verhandlungen im Gericht lassen sich mit einem Drehpuzzle vergleichen. In jahrelangen minutiösen Recherchen, hunderten Zeugeneinvernahmen und Verhandlungstagen versuchen Richter, Anklage und Verteidigung, Befehlsketten nachzuforschen, ein stimmiges Bild der strafrechtlich relevanten Ereignisse herzustellen und damit ein Urteil zu begründen. An diesem Verhandlungstag bedankt sich der Vorsitz-führende Richter Bertram Schmitt bei einer Zeugin für ihre Schilderung, die ein wichtiges Puzzleteil für die Wahrheitsfindung liefert. Ein anderes Mal fragte Richter Schmitt ein Opfer von Kriegsverbrechen, was sie sich von diesem Gericht erwarte. Ihre Antwort fasst das Ziel der internationalen Gerichtsbarkeit in zwei Wörtern zusammen: „Etwas Gerechtigkeit.“ Nächste Woche im Fokus: Lachen ist ansteckend, heißt es. Und es ist gesund. Lachtherapien werden sogar gegen chronische Schmerzen eingesetzt. Doch aus vollem Hals zu lachen, gehört nicht immer zum guten Ton. Und wie verhält es sich eigentlich mit schwarzem Humor? Ein Fokus zur Faschingszeit.
DIE FURCHE · 5 1. Februar 2024 International 5 Von Reinhard Heinisch Ein mäßig beliebter 81- jähriger Mann im Weißen Haus steht zwischen der westlichen demokratischen Welt, wie wir sie kennen, und der Machtübernahme durch Donald Trump. Dieser macht keinen Hehl aus seinen Plänen für einen autoritären Staatsumbau. Für sein Projekt 2024 erstellen Trumps Aktivisten Listen von Beamten, die als nicht Trump-loyal gelten, um sie massenhaft zu entlassen und durch Parteigänger zu ersetzen. Obwohl es jedem Präsidenten freisteht, Tausende von sogenannten politischen Spitzenbeamten zu ernennen, bleiben die Berufsbeamten in der Regel unangetastet. Neben feindselig gesinnten Beamten sind auch die „Globalisten“ Ziel von Trumps Verschwörungstheorien. Damit meint die radikale Rechte jene traditionellen Außenpolitiker beider Parteien, die Amerikas Rolle in der Welt und das traditionelle Bündnissystem hochhalten. Der ehemalige Sicherheitsberater Trumps, John Bolten, sagt unverblümt, dass Trump aus der NATO austreten werde, wenn er die Möglichkeit dazu habe, was das westliche Bündnissystem mit einem Schlag entwerten würde. Wie konnte es so weit kommen, dass die westliche Supermacht nicht mehr zu bieten hat als diese beiden Männer – einen alternden Präsidenten mit den schlechtesten Umfragewerten seit Präsident Carter und einen Herausforderer, der sich in 81 Anklagepunkten, darunter ein Putschversuch, vor verschiedenen Bundes- und Staatsgerichten verantworten muss? Auf die USA warten Autokratie und ein Bündnisbruch – falls Donald Trump das Weiße Haus zurückerobert. Derweil zerreiben sich die Demokraten an ihren Zankäpfeln. Warum Joe Biden mehr ist als nur eine Notlösung. Die bürgerliche One-Man-Show Programmatik: „God, gays, guns“ Hier vollzieht sich eine Entwicklung, die in den 1960er Jahren mit den Versuchen konservativer Aktivisten begann, aus einer stets zur Opposition verdammten, beschaulich biederen Republikanischen Partei, deren Wählerschaft die gehobene Mittelschicht und die Geschäftswelt repräsentierte, eine schlagkräftige Partei zu machen, die ihre Anhänger zu begeistern vermag. Um dieser eine enthusiastischere Basis zu verschaffen, beschloss man, die Partei weiter nach rechts zu rücken und sie stärker für die unteren Schichten zu öffnen. Ideologisch orientierte man sich daran, den liberalen Sixties mit einer zunehmend illiberalen und moralisierenden Komponente zu begegnen, wobei die drei G, also God, gays und guns, zur programmatischen Klammer wurden. Zur Finanzierung des neuen Kurses wurden kapitalkräftige Unternehmer umworben, denen die damals hohen Steuern und die neuen progressiven Sozialgesetze ein Dorn im Auge waren. Im konservativen Süden nach dem Ende der Rassentrennung und unter den zahlreichen, zuvor unpolitischen Evangelikalen fanden sich willige Unterstützer für den politischen Kreuzzug gegen den vermeintlich liberalen, sündigen und urbanen Mainstream. Praktischerweise verfügten in den Zeiten vor Fox News die evangelikalen Kirchen oft auch über Radiound später Fernsehstationen, die vor allem im Hinterland eine große Bevölkerung erreichten. Ronald Reagan war dann der erste republikanische Präsident, dem es gelang, massiv in traditionell demokratische Wählerschichten vorzudringen und auch Teile der Arbeiterschaft zu begeistern. Freundschaften unerwünscht Was Reagan bei den Präsidentschaftswahlen gelang, schaffte der gewiefte Taktiker Newt Gingrich 14 Jahre später bei den Kongresswahlen 1994, als er für die Republikaner nicht nur das Repräsentantenhaus eroberte und selbst Speaker wurde, sondern die Republikaner de facto zur neuen Mehrheitspartei machte. Seitdem kontrollierten die Republikaner das Repräsentantenhaus 20 Jahre lang, die Demokraten nur acht. Gingrich setzte erstmals stark auf Populismus und führte neue Umgangsformen ein. Freundschaften mit Kollegen der anderen Partei waren plötzlich nicht mehr erwünscht. Versuche, aus der Mitte heraus gemeinsam Gesetze zu verabschieden, wurden unterbunden und politische Gegner zu Feinden erklärt. Erstmals kam es zu einer massiven Obstruktionspolitik und zum ersten government shutdown, als Ämter wegen Geldmangels ihre Pforten schließen mussten. Diese neuen Republikaner verdrängten allmählich die alten, nutzen ihre Macht auf allen Ebenen, nicht nur um Amerikas liberale Tradition zurückzudrängen, sondern um die Demokraten auf allen Ebenen zu marginalisieren. Wo es ging, wurden Wahlbezirksgrenzen neu gezogen, um die republikanische Vorherrschaft einzuzementieren, und selbst in den Schulaufsichtsräten bemühte man sich, konservative Inhalte und Lehrbücher durchzusetzen. Dann begann die Revolution die eigenen Kinder zu fressen. Waren früher in den ideologisch heterogenen Wahlbezirken die Moderaten im Vorteil, sind es mittlerweile in den deutlich homogeneren Distrikten jeweils die Hardliner. „ Die radikalisierte Basis suchte nach einer Leitfigur, die nicht mehr den Stallgeruch der alten ‚Country-Club- Republikaner‘ an sich hatte. “ Foto: Getty Images / Sean Rayford Lesen Sie den Text „Donald Trump: Auch als Häftling Präsident?“ (5.7.2023) von Reinhard Heinisch, auf furche.at. Die Politik der Mitte ist es, für die Joe Biden steht, während progressive Parteifreunde nach links driften. Bidens Kurs dürfte derzeit der einzige sein, der eine Aussöhnung mit den Republikanern realisierbar macht. Diese brauchten bei den parteiinternen Vorwahlen nur den jeweiligen Amtsinhaber als R-I-N-O, als Republican in name only, apostrophieren, also als Verräter an der reinen Lehre, um sich bei der Basis als echter Rechtskonservativer zu empfehlen. In den von den Superreichen finanzierten Wahlkämpfen setzten sich Teile der Unterschicht oft ahnungslos für Steuererleichterungen für die Oberschicht und den Abbau von Schutzbestimmungen für Verbraucher und Arbeitnehmer ein. Die Wut auf die Politik wuchs und war Wasser auf die Mühlen derer, die versprachen, das System zu stürzen und die Eliten zu entmachten. Die Demokraten reagierten erst spät auf die Radikalisierung der Rechten und begannen sich zu spalten. Auf der einen Seite versuchten Vertreter des moderaten Flügels wie Obama und später Biden an der Idee eines gemeinsamen Amerikas und einer Politik der Mitte festzuhalten, während der progressive Flügel zunehmend nach links driftete und sich Woke-Inhalte zu eigen machte. Wer am Wahltag zu Hause bleibt Bei den Republikanern entglitten den einflussreichen Finanziers im Hintergrund mit dem Auftreten der Tea-Party-Bewegung allmählich die Dinge. Statt neoliberaler und fiskalkonservativer Wirtschaftspolitik machten Verschwörungstheorien und wirre autoritäre Ideen in republikanischen Kreisen die Runde. Die radikalisierte Basis verselbstständigte sich und übernahm zunehmend die Partei, suchte jedoch nach einer Leit- und Integrationsfigur, die nicht mehr den Stallgeruch der alten „Country- Club-Republikaner“ an sich hatte – und fand diese im machtversessenen Außenseiter Donald Trump. Während die Republikaner in die unteren Schichten vordrangen, geschah bei den Demokraten das Gegenteil: Dort wurde die bürgerliche Mitte wahlentscheidend. Deren Wähler verhalten sich jedoch zögerlich, könnten am Wahltag zu Hause bleiben. Wahlen sind Mobilisierungswettbewerbe, wobei Schlammschlachten und Kontroversen dazu führen, dass die laue politische Mitte den Radikalen das Feld überlässt. Heute bildet eine neue Linke den aktivistischen Kern der Demokraten. Diese progressive Basis steht dem Großteil der liberal-bürgerlichen Wählerschaft denkbar fern und kann sich mit dieser kaum auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Mit einer Ausnahme: Joe Biden. Der amtierende Präsident repräsentiert den Minimalkonsens zwischen diesen Gruppen und hat trotz aller Schwächen die besten Chancen, Trump noch zu stoppen. Der Autor ist Professor und Leiter des Fachbereichs Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.
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