DIE FURCHE · 5 18 Literatur 1. Februar 2024 GANZ DICHT VON SEMIER INSAYIF „enteigne deinen blick und schau selbst noch einmal“: Der Lyriker Semier Insayif legt neue Sichtachsen auf Bilder und Schriftlichkeit frei. Sinn des Sehens Von Maria Renhardt Viele Jahre schon ist der Autor Semier Insayif als experimenteller Grenzgänger zwischen den Kunstwelten unterwegs. Vielleicht auch deshalb, weil er sich selbst in erster Linie als Lyriker begreift. Denn das Gedicht als solches, hat er einmal in der „Gesellschaft für österreichische Literatur“ gesagt, steht mit „so vielen angrenzenden Künsten“ in einer derart engen Beziehung, dass es irgendwie „zu flirren“ beginnt. Eine eindeutige Nähe offenbart sich naturgemäß nicht nur zur Musik und zum Tanz, sondern auch zur bildenden Kunst, weil das Gedicht „eine Bewusstheit zur Fläche“ habe. Die tiefe Erkenntnis, dass sich Lyrik mit ihren Elementen Rhythmus, Tonalität oder Bild immer auch an Randzonen bewegt und über Grenzen hinaus oszilliert, habe schon lange seine Faszination für die Beschäftigung mit anderen Künsten geweckt. In seinem 2004 erschienenen Gedichtband „libellen tänze“ hat Insayif sich in Zusammenarbeit mit dem Cellisten Martin Hornstein in einer präzisen lyrischen Kompositionsarbeit an Verbindungen zu Bachs Cellosuiten he rangetastet. Seine jüngste Publikation „ungestillte blicke“ setzt sein Anliegen gewissermaßen fort, in den breiten und zugleich eng verwobenen Kosmos der Künste einzutauchen, um ineinanderfließende Grenzbereiche und Symbiosen auszuloten: „die kunst ein (amputierter) regenbogen in bla/ lau“. „ Besonderen Raum widmet Insayif zahlreichen Bildern berühmter Künstlerinnen und Künstler, die ihn zu Gedichten inspiriert haben. “ Im Fokus steht der Blick und damit eine eingehende Beschäftigung mit Werken aus der bildenden Kunst. Seine Texte, denen gründliche Recherchen vorausgegangen sind, reichert Insayif mit einer Fülle von Zitaten bekannter Persönlichkeiten an, um mit ihnen in einen lyrischen Dialog zu treten. Fragen wie „was sehe ich wenn ich ein bild sehe? / was höre ich? / hat das ästhetische eine grammatik? hat der blick ein herz? / ist sprache empfänglich für ein bild?“ stoßen philosophische Gedanken über das Wesen Semier Insayif Der Lyriker und Sprachperformer (*1965) publiziert seit 1993 und lebt als Schriftsteller, Kommunikationssowie Verhaltenstrainer und Coach in Wien. Foto: Ian Ehm ungestillte blicke oder vom bebildern eines kopfes und beschriften desselben Gedichte von Semier Insayif Klever 2022 124 S., geb., € 20,– des Blicks oder generell das Sehen an. In „neun poetologischen skizzen zur vor/sicht“ empfindet er den Prozess des Beginnens nach – fürs Schreiben und Malen: „wer unerhört / viel sieht / wird unversehens / hörbar“. Besonderen Raum widmet Insayif zahlreichen Bildern berühmter Künstlerinnen und Künstler, die ihn zu Gedichten inspiriert haben. Die genaue Betrachtung der Gemälde eröffnet schillernde Imaginationsräume, die er sprachexperimentell in Lyrik transformiert, etwa Günter Brusʼ Installation „Selbstbemalung II“, Martha Jungwirths „Selbstportrait 1987/88“ oder Maria Lassnigs „Sprachgitter“, das nach einem Gedicht des mit ihr befreundeten Paul Celan entstanden ist und dessen Text hier verfremdet nachklingt: „der eiserne tüll (…) die seele errätst du nie / das rätsel ungelöst / knöchern taubes / klangkonstrukt / sprachvergitterung / unerhörtes schweigen / skelettiert jeden / leichtsinn“. Mittels fein ausgeklügelter Assoziationstechnik ermöglicht Insayif im Neupositionieren und Zerlegen von Worten innovative Blickachsen auf Gemälde und Sprache, die sich beim Wiederlesen immer wieder neu erschließen lassen. Hier führt der Sinn des Sehens auf wundersame Weise Regie. Poetische Sprachbehausung & dichterische Durchdringung Die Fragen, was ein Zuhause eigentlich ist oder wie ein Ort beschaffen sein muss, damit man ihn als ein solches wahrnimmt und bezeichnet, sind Grundthemen im neuen Gedichtband „Zweckbau für Ziegen“ von Angelika Rainer, der in drei Kapitel geteilt ist. Prosasätze wie „Eine Behausung lässt sich auch mit Worten errichten.“ und „Sätze schaffen ein Dach über dem Kopf.“ stellen im ersten Kapitel einen Rahmen her. Das zweite Kapitel besteht aus 60 längeren Prosagedichten ohne Endreime, aber mit Assonanzen und Alliterationskaskaden: „Zwischen Zitterpalmen hat der Zirkus seine Zelte aufgeschlagen“. Die intensivsten Atmosphären schaffen die Gedichte jedoch durch das Ineinandergreifen der Phänomene Natur und Mensch und durch die wortwörtliche Durchlässigkeit ihrer ambivalenten Beziehung. Die dadurch entstehenden Existenzängste führen zu poetisch-philosophischen Texten, die in ihrer Stille und ihrem Tiefgang mit teilweise erzählerischem Gestus überzeugen und sich unter die Haut schreiben. Die Bildhaftigkeit an manchen Stellen ist überraschend und eindrücklich: „Ohne Wind wäre der Reiher / Teil der festen Landschaft geworden.“ Das dritte Kapitel schließt den Rahmen in Prosa und beginnt mit dem Satz: „Es war eine Ziege, die als erstes ungeflügeltes Lebewesen in den Himmel auffuhr.“ Im neuen Gedichtband „Unter elektrischen Monden“ von Thomas Ballhausen ist ein spannungsgeladenes Aufeinandertreffen poetischer Substanzen auf unterschiedlichen Ebenen zu beobachten. Heißt es doch schon im ersten Gedicht „Boltzmann Brain“: „Punch and Judy in Platos Höhle / Sondervorstellung, gut besucht“. Und, um beim Begriff „Substanz“ zu bleiben, heißt es weiter: „Schatten beobachtend, abgelenkt und entkoppelt / eine gelinderte Auszeit von allem mit / 500 mg Orpheus forte“. Der Gedichtband ist in sechs Kapitel eingeteilt. Die Kapitel fünf und sechs versammeln Texte, die im Blocksatz gesetzt, mit allen Unsicherheiten einer definitorisch eindeutigen Abgrenzung, als poetische Prosa oder Prosagedichte bezeichnet werden können. Auf einer motivisch inhaltlichen Ebene sind Begrifflichkeiten wie Erkenntnis, Krieg, Beschädigung, Verletzung, Einsamkeit, Musik, Digitalisierung und eine Mischung von konkreten und individuellen Befindlichkeiten einerseits und abstrakten, reflexiven, poetologischen oder stark theoretisch anklingenden Verweisen andererseits wahrzunehmen. Literatur, Film, Antike, Pop dienen dabei als schöpferisches Reservoir dieser offenen und feinsinnigen Sprachforschungsreise. Wie heißt es in dem Gedicht mit dem Titel „Satz vom Grund“: „mein Himmel ist voller Erde“. „ganz dicht“ stellt jeweils vor einem Dicht-Fest in der Alten Schmiede (nächstes: 15.2.2024) Lyrik vor. Zweckbau für Ziegen Gedichte von Angelika Rainer Haymon 2023 88 S., geb., € 22,90 Unter elektrischen Monden Gedichte von Thomas Ballhausen edition keiper 2023 80 S., kart., € 16,50 LEKTORIX DES MONATS Trauma und Transformation Buchpreis von FURCHE, Stube und Institut für Jugendliteratur Der Geruch von Ruß und Rosen Von Julya Rabinowich Hanser 2023 240 S., kart., € 18,50, ab 14 J. Von Kathrin Wexberg und Frieden“, „Doktor Schiwago“ oder „Im Westen nichts „Krieg Neues“ (durch seine Oscar-nominierte Netflix-Verfilmung wieder in aller Munde) – die Schrecken des Krieges sind ein Thema, das in der Literatur intensiv behandelt wird. Zentrale Perspektive ist dabei meist eine männliche, berichtet wird oft von militärischen Handlungen. Auch Julya Rabinowich, wichtige Stimme der österreichischen Gegenwartsliteratur und wache Kommentatorin des politischen Geschehens, erzählt in ihrem dritten Jugendroman um das junge Mädchen Madina („Dazwischen: Ich“ erschien 2016, „Dazwischen: Wir“ 2022) vom Krieg und seinen Folgen, wählt jedoch eine gänzlich andere Perspektive. Und einen ungewöhnlichen Ausgangspunkt, denn der Roman setzt mit einer unglaublichen Nachricht ein: „Dein Krieg, Madina. Euer Krieg ist vorbei!“ Gemeinsam mit ihrer Tante Amira, einer der komplexesten und damit interessantesten Figuren der Romantrilogie, bricht sie in ihr nicht näher benanntes Herkunftsland auf, um den Vater zu suchen. Sie findet ihn allen Widrigkeiten zum Trotz ‒ dennoch bringt diese Reise neben dem Aufdecken familiärer (Schuld-)Verstrickungen auch einen tragischen Verlust. Madina ist mittlerweile in ihrem letzten Schuljahr, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, und damit stellt sich in neuer Dringlichkeit die Frage, inwieweit sie weiterhin die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Familie auf sich nehmen kann – und will. Gespeist wurde der Roman von zahlreichen Gesprächen, die Julya Rabinowich als Dolmetscherin mit Kriegsüberlebenden und Folteropfern geführt hat. Sensibel und doch sehr klar rückt die Autorin mit dem Thema sexualisierter Gewalt gegen Frauen einen Aspekt von Kriegsverbrechen in den Fokus, der allzu oft ignoriert wird. Ihr Blick ist ein feministischer – rund um Madina wird eine Reihe bemerkenswerter Frauenfiguren gruppiert, ob in ihrer Kernfamilie, der Schule oder jenem Netzwerk darüber hinaus, das sie über alle Schwierigkeiten hinweg trägt. Dass die Lektüre bei aller Drastik des Themas erträglich bleibt, liegt nicht zuletzt an der besonderen Erzählstimme von Madina, deren Tonalität sowohl jugendliche Flapsigkeit (inklusive Schimpfwörtern), aber auch große Poesie beinhaltet. So wird literarisch auf hohem Niveau deutlich, dass der Krieg nie zu Ende geht: „Ein Krieg ist nie vorbei, das weiß ich jetzt. Er kriecht den Menschen, die ihn überstanden haben, unter die Haut wie Stacheldraht und Kugeln, er breitet sich im Blutstrom aus, dunkel und kalt, er vergiftet weiter und weiter und weiter.“
DIE FURCHE · 5 1. Februar 2024 Musik 19 Von Walter Dobner Was hat der große Dirigent Wilhelm Furtwängler mit dem Musical an der Wiener Volksoper zu tun? Bei seinem Begräbnis 1954 in Heidelberg überraschte Ernst Marboe, der damalige Leiter der Österreichischen Bundestheaterverwaltung, Marcel Prawy mit der Absicht, ihn als Direktor der Wiener Volksoper vorzuschlagen. Daraus wurde zwar nichts, stattdessen wurde Prawy aber zum Chefdramaturgen berufen. In dieser Funktion etablierte der spätere „Opernführer der Nation“ dort gegen heftigen Widerstand das Musical. Dieses ist seither von der Wiener Volksoper nicht mehr wegzudenken. Sie wurde damit zur Wegbereiterin für die Erfolgsgeschichte dieses Genres auch an anderen österreichischen Bühnen. Nur knappe sechs Wochen blieb an der Volksoper damals Zeit für die erste Musicalproduktion, Cole Porters „Kiss me, Kate“. Eine Brücke zwischen Amerika und Österreich zu schlagen, hatte sich Prawy mit seiner neuen Aufgabe vorgenommen. Das traf sich mit Marboes Wunsch, die Wiener Volksoper zu einem „Bayreuth der leichten Muse“ zu machen. Schon bei Porter setzte der neue Chefdramaturg auf eine Mischung österreichischer und amerikanischer Interpreten. Er engagierte den beliebten wie prominenten Wiener Burgmimen Fred Liewehr als Petruchio und die US-Amerikanerin Olive Moorefield, die bald zu einem der großen Wiener Publikumslieblinge avancieren sollte, für die Rolle der Bianca. Die Premiere am 14. Februar 1956 wurde ein Triumph. Insgesamt 183 Mal stand die Produktion auf dem Spielplan. Was sollte danach kommen? Die Köpfe rauchten, eine Ausschreibung für ein österreichisches Musical brachte kein brauchbares Ergebnis. Da warf Amerika- Kenner Ernst Marboe den Namen Leonard Bernstein in die Diskussion. Schon war das nächste Musical an der Volksoper gefunden: „Wonderful Town“. Es wurde nicht so gefeiert wie „Kiss me, Kate“. Das rief einige auf den Plan, das Musical wieder aus der Wiener Volksoper zu verbannen. Daraus wurde nichts. Bereits 1965 landete man mit „Porgy and Bess“ einen Renner der Sonderklasse. Drei Jahre später folgte die europäische Erstaufführung von Bernsteins „West Side Story“, seinem bis heute populärsten, weltweit am meisten gefeierten Bühnenwerk. Foto: Marco Sommer / Volksoper Wien Nach Leonard Bernsteins „Candide“ im MuseumsQuartier nun eine neue „West Side Story“ an der Volksoper: Sie setzt unter dem neuen Musikchef Ben Glassberg die Musicaltradition dieses Hauses erfolgreich fort. Wo das Musical wirbelt Mit Neugier erwartet Fast hätte Marcel Prawy den Komponisten überreden können, sein Werk selbst zu dirigieren. Das ist ihm zwar nicht gelungen, den Erfolg der Serie – an die hundert Aufführungen – beeinträchtigte das nicht. Im März 1968, während seiner Proben für eine Neuproduktion des „Rosenkavalier“ an der Staatsoper, besuchte Bernstein eine Aufführung dieser „West Side Story“- Produktion. In einem dunkelblauen Anzug, aber ohne Krawatte, wie man in den Zeitungen lesen konnte. Leonard Bernsteins „West Side Story“ und die Wiener Volksoper sind, selbst wenn sich die Programmpalette des Hauses in den vergangenen Jahrzehnten dank unterschiedlicher Direktoren gewandelt und verändert hat, längst zu einem Synonym geworden. Jede Neuinterpretation dieses Stücks erweckt daher eine dementsprechend große Neugier. So auch die jüngste, die seit dem Wochenende gespielt wird. Dass dieses Mal das Interesse vorrangig dem Dirigenten galt, liegt auf der Hand: Am Pult stand der seit Jahresbeginn amtierende neue Chefdirigent, der 29-jährige Londoner Ben Glassberg. Sein Traum war es schon immer, diesen Bernstein zu dirigieren. Am Währinger Gürtel realisiert er ihn mit mehr als den üblichen Streichern, um damit einen noch opulenteren Klang zu erzielen: nämlich mit 25, anstelle der gewohnten zwölf. Das kommt dem Sound durchaus zugute. Dennoch könnte er sich zuweilen mehr Zeit nehmen, müsste er nicht in einer solchen Wirbelwindmanier durch die Partitur stürmen. Oder wollte er mit dieser, von geradezu ungebändigtem Elan bestimmten Lesart zeigen, dass das Volksopern orchester imstande ist, sich dieser Herausforderung auch mit ungewohnt zügigen Tempi virtuos zu stellen? Trotzdem klappt die Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne vorzüglich. Die auch schauspielerisch gut geführten Sängerinnen und Sänger scheinen sich unter dem neuen Musikchef bestens aufgehoben zu fühlen. Warum allerdings stetig zwischen Gesangsenglisch und Dialogdeutsch – die deutsche Dialogübersetzung stammt, selbstverständlich, von Marcel Prawy – geswitcht wird, erschließt sich nicht. Das stiftet bloß Verwirrung. Alles im englischen Original, dazu deutsche Übertitel – warum hat man sich nicht auf diese hier doch so naheliegende Lösung verständigt? „ Eine solch umfassende Perspektive lässt sich nur verwirklichen, wenn es gelingt, dafür ein stimmig besetztes Ensemble zu begeistern. Genau das ist geglückt. “ Glänzend die Bühnenlösung von Christof Hetzer: Sie berücksichtigt zum einen die Möglichkeiten der Volksoperndrehbühne, ist zum anderen vom dunklen Ambiente der New Yorker Hinterhöfe inspiriert. Schauplatz der Handlung ist bekanntlich die New Yorker Upper West Side Ende der 1950er Jahre. Da genügen dann einige wenige Requisiten, um die einzelnen Schauplätze plastisch zu suggerieren. Damit bleibt viel Platz für die Sängerinnen und Sänger, denn das eigentliche Ereignis dieser Produktion ist der Tanz. Mit einer so brillanten Choreografie, wie sie dem in Puerto Rico geborenen Bryan Arias zu diesem Sujet eingefallen ist, wird man nicht alle Tage bedient: virtuos serviert und im besten Einklang mit Lotte de Beers Inszenierung. Sie legt den Fokus auf die Liebesgeschichte dieses in das 20. Jahrhundert transferierten Romeo-und-Julia-Paars, das hier als Tony (rollendeckend Anton Zetterholm) und Maria (glänzend Jaye Simmons) auftritt, vergisst aber ebenso wenig auf eine prägnante Nachzeichnung der in diesem Musical mindestens ebenso wesentlichen Rahmenhandlung. Dadurch erscheinen die Konflikte besonders plausibel, die durch die unterschiedliche Herkunft der einzelnen FEDERSPIEL Blendwerk Einen Rückzugsort des Vergnügens suchte ich letztens im Kino, weil ich ein gemeinschaftliches Erlebnis des Sehens suchte. Originalfassung im Artis. Das Foyer hat die Kühle eines klinischen Stalls, in dem Herden erst zur Futterstelle geführt werden. Danach geht es in die Säle, wer zu früh kommt, ist selber schuld. Das blaue Licht treibt einen um den Häuserblock, will man keine Nachos. Einlass ist nach Besuch der Futterstelle gewährt. Man nimmt Platz. Der Film startet. Rundum wird gefuttert. Die Schweinemast mit Nachos und Sauce findet lautstark statt. Ein Kulturpublikum unter dreißig frisst und schaut sich den Film „Poor Things“ an. Ein additiver Frankenstein-Killer. Mary Shelleys Meisterstück dient als Vorlage. Doch hat der wunderbare Regisseur von „Lobster“ ein Drehbuch verwendet, das nichts vom Grundsatz eines guten Filmes weiß. Seine drei Säulen lauten: Erstens: Das Buch. Zweitens: Das Buch. Drittens: Das Buch. Unfassbar viele Einfälle sind für Kostüm, Setting und Jokes draufgegangen, aber es fehlt eine echt gute Idee, aus der etwas Ganzes ent- Protagonisten entstehen. Die gesellschaftspolitische Dimension dieses Musicals wird so beklemmend deutlich. Eine solch umfassende Perspektive lässt sich nur verwirklichen, wenn es gelingt, dafür ein stimmig besetztes Ensemble zu begeistern. Genau das ist im Haus am Währinger Gürtel geglückt. Die Erfolgsstory der „West Side Story“ an der Volksoper geht damit weiter. West Side Story Volksoper, 3., 7., 10., 12., 16., 19., 23., 25., 28.2. steht. Dabei hätte sie darin bestanden, was passiert, wenn man das Gehirn eines Fötus in den Kopf seiner Mutter einpflanzt. Wie schaut die Abnabelung aus? Wie die Entwicklungsphasen? Wie wird aus einer Puppe eine reife Frau? Was macht sie dann? Skurril und durchgedreht wäre diese Machtumkehr am Ende des patriarchalen Zeitalters. Leider hat sich der Film verzettelt und nur mit der Befriedigung von Schadenfreude beim Publikum beliebt gemacht. Der Schlussgag ist so dumm, dass es wütend macht. Der Kopf eines Bösewichtes wurde auf einen Ziegenkörper gesetzt. Man sieht eine Blätter rupfende Schimäre mit Mannskopf, in deren Gehirn das Ziegengehirn verpflanzt wurde. Wozu? Um einen Bösewicht als Ziege zu sehen. Zum Gaudium des gemästeten Publikums. Einzig das Sounddesign war toll, wenn auch peinlich gestört durch Crackers. Die Autorin ist Schriftstellerin. Ereignis Tanz Die Choreografie von Bryan Arias, geboren in Puerto Rico und aufgewachsen in New York, beeindruckt sehr. Im Bild: Myrthes Monteiro als Anita. Von Lydia Mischkulnig
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